Erinnerungen an Erich Kästner
Barbara Bauer, Michael Fischer, Julia von Hiller, Ruth Müller-Brennfleck, Simone Scheurer und Thomas Schön 30.7.2024 15.55 Uhr
DOI: https://doi.org/10.58019/gshm-4w58
Das doppelte Lottchen, Das fliegende Klassenzimmer, Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton, Die Konferenz der Tiere und viele mehr – das sind Klassiker der Kinderbuchliteratur! Bestimmt kennen Sie den einen oder anderen Titel als Buch oder in einer der vielen Verfilmungen. Der weltbekannte Autor dieser Werke ist Erich Kästner. Dieses Jahr hätte er seinen 125. Geburtstag gefeiert, wäre er nicht vor genau 50 Jahren verstorben. Schon im Medientipp haben wir darauf hingewiesen, dass Kästner nicht nur als Kinderbuchautor, sondern auch als Dichter und Journalist erfolgreich war und Gedichte, Rezensionen, Kritiken und Reportagen verfasste. Natürlich haben wir neben den Werken von Erich Kästner auch Literatur über ihn, wenn Sie eines seiner Bücher lesen oder etwas über ihn genauer wissen möchten.
Anlässlich des Jubiläums wurde ein Aufruf in der Badischen Landesbibliothek gestartet: Wie und woran erinnern sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BLB, wenn sie an Erich Kästner denken? Sechs Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen folgten dem Aufruf und teilen ihre Gedanken dazu hier.
Thomas Schön:
Seit 1970 sammle ich Briefmarken und besitze heute eine schöne Sammlung verschiedener Marken aus Deutschland, Österreich, Luxemburg, Liechtenstein und der Schweiz. Als die Mail mit der Bitte um Erinnerungen zu Erich Kästner kam, griff ich zu meinem Briefmarkenalbum mit den Marken, die den Schriftstellern, Künstlerinnen und Musikern gewidmet sind: Zum 125. Geburtstag in diesem Jahr – 2024 – erschien eine Briefmarke im Wert von 85 Cent nach einem Entwurf von Bettina Walter aus Bonn, der zwei Porträts von Erich Kästner, einmal lächelnd und einmal nachdenklich, zeigt. Auch die Briefmarkenzeitung 01/2024 mit den Ausgaben für die Monate Januar und Februar 2024 druckte eine doppelseitige Ausführung zu Erich Kästner und eine weitere kurze Erläuterung zu der am 1. Februar 2024 erschienenen Sondermarke.
Bereits 1999, zum 100. Geburtstag von Erich Kästner, gab die Deutsche Post ein Sonderwertzeichen mit dem Nennwert von 300 Deutschen Pfennigen (= drei Deutsche Mark) heraus, die ich ebenfalls in meiner Sammlung habe: Sie stellt ein Motiv dar, das vielen Leserinnen und Lesern des entsprechenden Buches bekannt sein dürfte: Es handelt sich um das Buchcover von Emil und die Detektive, das der Illustrator Walter Trier 1929 für die erste Ausgabe zeichnete. Natürlich habe ich auch das Buch in meiner Kindheit gerne gelesen und habe mich umso mehr gefreut, als dann diese Briefmarke das gleiche Titelbild wie das Buch zeigte, dessen Erstveröffentlichung 1999 übrigens genau 70 Jahre her war...
Die beiden Sonderbriefmarken zum 100. und 125. Geburtstag von Erich Kästner aus dem Besitz von Thomas Schön und das von Walter Trier gestaltete Titelbild zur Erstausgabe von Emil und die Detektive (1929). Quelle: Wikipedia Commons
Ruth Müller-Brennfleck:
Als Kind habe ich Erich Kästner gelesen; in meiner Grundschulzeit habe ich seine Kinderbücher verschlungen. Die Bücher zählten damals schon zu den Klassikern: Sie hatten aber mit dem Alltag meiner Kindheit in den Siebzigerjahren wenig zu tun, eine „Zugehfrau“ hatte niemand mehr. Und auch einige andere Wörter wie „knorke“ waren mir, die ich im Badischen aufgewachsen bin, bisher unbekannt. Die Geschichten waren dennoch gut zu lesen, die Sprache wirkte auf mich nicht altmodisch und war sehr unterhaltsam. Die Beschreibung der Kindheit und Lebensumstände in den Büchern war auch Jahrzehnte später noch so anschaulich, dass ich mir Pony Hütchen aus dem Buch Emil und die Detektive sehr bildlich in der Berliner Straßenbahn vorstellen konnte, und dass ich mit Emil mitfieberte, der auf einer Zugfahrt bestohlen wurde und dann mithilfe einer Gruppe Berliner Kinder den Dieb jagt.
Auch sein Buch Die Konferenz der Tiere hat mich als Kind sehr beeindruckt: Hier treffen sich die Tiere, um die Welt für die Kinder zu retten, da es den Erwachsenen nicht gelingt, Kriege, Hungersnöte und die Zerstörung der Umwelt zu beenden – immer noch aktuell und frei nach Herbert Grönemeyers „Kinder und Tiere an die Macht!“. Vor einiger Zeit schon wurde mir sein autobiographischer Roman Als ich ein kleiner Junge war von einer Freundin sehr empfohlen. Das Jubiläumsjahr werde ich jetzt zum Anlass nehmen, das Buch endlich zu lesen.
Julia von Hiller: Es lohnt sich, immer nur Nussella zu verlangen
Also ich habe keine Kindheitsgeschichte mit Erich Kästner. Als ich Grundschulkind war, Anfang der 1970er Jahre, da hatte ich’s mehr mit Pippi Langstrumpf. Erich Kästner; das war für jene Zeit viel zu brav. Aber unlängst sind mir Das doppelte Lottchen und Pünktchen und Anton gerade als Sammelalben wiederbegegnet. Für Anfang des nächsten Jahres planen wir in der BLB nämlich eine Ausstellung über Sammelbilder und ihre Alben. Das bereitet sich schon seit einer ganzen Weile vor, ein Spendenaufruf im Jahr 2021 hat dazu geführt, dass wir jetzt einen kleinen, aber repräsentativen Bestand an Sammelbilderalben haben. Das doppelte Lottchen und Pünktchen und Anton stammen vom Karlsruher Pfenningbasar!
Haben Sie als Kind etwa keine Reklamebilder gesammelt, auf dem Schulweg getauscht, in Serien komplettiert? Autobilder, Tierbilder, Fußballbilder? Die 150 Jahre alte Erfindung, Markenprodukten kleine bunte Bilder beizugeben, die man dann in Alben kleben kann, ist ja trotz des seither erfolgten Medienwandels immer noch am Leben. Wenn das Album voll werden sollte, musste man eben immer mehr vom selben Produkt kaufen. Eine ebenso einfache wie geniale Idee zur Kunden- und Markenbindung. Später hat sich die Erfindung Sammelbild vom Produkt emanzipiert und als „Tütenbild“ des Panini-Verlags eine selbständige Existenz fortgeführt. Aber das Sammelbild ist unverwüstlich. Die komplette Kollektion zur Topps UEFA™ Fußball-Europameisterschaft 2024 umfasste 728 Sammelbilder. Niemand braucht das, aber es verkauft sich immer noch.
Anfang der 1950er Jahre waren es vor allem die Margarinehersteller, die sich hier einen Absatzmarkt erschlossen. Die Konkurrenz der Firmen war so scharf, dass alle zwangsläufig mitmachen mussten, denn eine Margarine ohne Bilder war schlichtweg unverkäuflich. Sie setzten auf den Quengelfaktor und bahnten durch direkte Ansprache der Kinder den Weg von Tafelperle, Nussella oder Alsan in die Einkaufskörbe der Mütter. Sanella in Hamburg brachte Abenteuerreisen in alle fremden Erdteile heraus. Thormählen in Elmshorn erzählte die Geschichte des Drachentöters Siegfried neu, und die ebenfalls in Elmshorn niedergelassene Margarinefabrik Wagner vermittelte botanisches und zoologisches Wissen ebenso, wie sie den Kindern ihrer Kundinnen Abenteurer und Entdecker, Schelme und Narren vorstellte oder Märchen erzählte. Elmshorn in Holstein war zeitweise das Zentrum der Sammelbildproduktion, denn auch die dort ansässige Firma Köllnflocken verschrieb sich ganz und gar dem Kinderbuch mit Sammelbildern. Der Konkurrenzdruck trieb das Sammelbildergeschäft der Margarinehersteller in ein eklatantes Missverhältnis zwischen Aufwand und Gewinn – am 1. März 1954 beschloss man gemeinschaftlich das Aus für die Sammelbilder-Produktion.
Das Holsteinische Margarinewerk Elbgau Hahne von Storch & Co. gab Anfang der 1950er Jahre Sammelalben zu den Kinderfilmen Das doppelte Lottchen und Pünktchen und Anton von Erich Kästner heraus. Der Film vom Doppelten Lottchen entstand 1950 nach dem 1949 erschienenen Kinderbuch, Erich Kästner selbst hatte das Drehbuch geschrieben, die Uraufführung erfolgte am 27. November 1950 in Wien. Pünktchen und Anton nach Kästners schon 1931 erschienenem Jugendbuchklassiker hatte seinen Kinostart in Deutschland am 27. August 1953; auch hier hatte der Autor das Drehbuch selbst geschrieben.
Die beiden Sammelalben erzählen den Film als Fotoroman nach, stellen die Schauspieler vor und illustrieren das alles mit Textzeichnungen. Einkleben musste man noch die jeweils 96 postkartengroßen Sammelbilder: Bei diesen handelte es sich um Schwarzweiß-Filmfotos und – damit auch etwas Farbe ins Album kam – um ergänzende farbige Zeichnungen. Die Sammelbilder erhielten jene Kinder, denen ihre Mutti Nussella oder Ei-Nussa zum Frühstück gönnte. Und damit das auch keineswegs vergessen würde, wurde die Werbung auch in die Nacherzählung von Erich Kästners Geschichte hineingemogelt: Auf dem Heimweg von der Schule nämlich macht Pünktchen halt: „Ohne Übergang fragt sie plötzlich: ‚Hast du mir heute Sammelbilder mitgebracht?‘ ‚Ja, natürlich‘, erklärt Anton, ‚Ei-Nussa-Bilder.‘ ‚Au fein!‘ sagt Pünktchen begeistert. Denn Margarinebilder bekommt sie zuhause nicht. Die sammelt Berta, die Köchin, für ihren Neffen.“
Titelbild des Sammelalbums Das doppelte Lottchen. Nach dem gleichnamigen Film von Erich Kästner. Hamburg [1952]. Badische Landesbibliothek, 124 F 130. – zum Nachweis
Simone Scheurer:
Als ich den Aufruf zu Erinnerungen an Erich Kästner gesehen habe, kamen mir sofort die Sammelalben zu den Filmen von Erich Kästner in den Sinn: Mein Vater besaß damals das Sammelalbum zum Film Das doppelte Lottchen, und mir bereitete es schon früh große Freude, darin zu blättern und zu lesen. Noch heute sind diese Sammelalben antiquarisch verfügbar. Die Firma Elbgau-Filme gab sie damals heraus.
Aber auch die Verfilmung des doppelten Lottchens, aus einer inzwischen schon fast antiken Zeit stammend, finde ich bis heute ganz wunderbar: Sie weckt Kindheitserinnerungen in mir. In der ersten Verfilmung von 1950 erzählt Erich Kästner persönlich die Geschichte von der frechen Luise und der höflichen Lotte, die in einem Ferienheim aufeinander treffen und herausfinden, dass sie eigentlich Zwillinge sind.
Michael Fischer:
Als Kind der smartphonefreien Achtzigerjahre habe ich noch – wie selbstverständlich – Erich Kästner gelesen und daran auch wirklich schöne Erinnerungen. Angesichts der doch in die Jahre gekommenen Geschichten war ich allerdings einigermaßen skeptisch, ob der eigene Nachwuchs diese Bücher heute noch wollen würde. Und was soll man sagen? Er will.
Beim abendlichen Vorlesen wurde mit Emil und die Detektive sowie bei Pünktchen und Anton mitgefiebert und mit dem Fliegenden Klassenzimmer die Höhen und Tiefen des Schulalltags durchlebt. Gerade ist Das doppelte Lottchen dran, und zwar nicht mehr von den Eltern vorgelesen, sondern zum Selberlesen. Und die Geschichten funktionieren immer noch. Klassiker sind eben zeitlos…
Das von Walter Trier gestaltete Titelbild zur Erstausgabe von Das doppelte Lottchen (1949). Quelle: Wikipedia Commons
Barbara Bauer:
Zu meinen Lieblingsbüchern als Kind zählt definitiv Das doppelte Lottchen. Der berühmte Roman von Erich Kästner war eines der ersten Bücher, die ich im Grundschulalter gelesen habe. Fasziniert haben mich vor allem die unterschiedlichen Lebensrealitäten der beiden Schwestern und die Möglichkeit, den eigenen Alltag so einfach zu tauschen. Ganz heimlich habe ich mir wohl damals auch eine unbekannte Zwillingsschwester gewünscht, um bei einer anderen Familie ‚Mäuschen zu spielen‘ und deren Familiendynamik kennen zu lernen. Die Schwarz-Weiß-Verfilmung des literarischen Stoffes von 1950 habe ich natürlich auch gesehen – ein Klassiker!
Literatur von und über Erich Kästner sind im Katalog plus verfügbar.