Seher: Berühmtheiten der Antike
Auch abseits von Tempeln brachte die klassische Antike viele Zukunftsdeuter hervor, deren Namen bis heute für die Verkündung des Götterwillens und gleichzeitig die Unabwendbarkeit des offenbarten Schicksals stehen. Sie beflügeln bis heute immer wieder die literarische Phantasie und sind teilweise sogar als feststehende Metaphern in die moderne Sprache eingegangen.
Diese Zukunftsdeuter können, im Gegensatz zu den meisten übrigen Menschen, direkt mit der Götterwelt kommunizieren und geben ihr daraus erlangtes Wissen an ihre Umwelt weiter. Doch konnte diese besondere Verbindung zur göttlichen, zukunftslenkenden Sphäre auch Nebenwirkungen haben.
So erhielt Teiresias, in Kunst und Literatur vielfach aufgegriffen und seit Homer als Inbegriff des Sehers bekannt, die Sehergabe verliehen – verlor gleichzeitig jedoch sein Augenlicht. Auch für die sprichwörtlich gewordene Seherin Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos, war ihre besondere Gabe mit einem Nachteil behaftet. Ein Gott verfügte, dass niemand ihren Visionen Glauben schenken sollte. Ihre wohl berühmteste Vorhersage, die daher unbeachtet blieb, war die des Untergangs Trojas durch das trojanische Pferd.
Anonymer, dabei jedoch nicht weniger bekannt ist die Sibylle. Mit diesem Namen wurden verschiedene weibliche Prophetinnen der griechischen Antike bezeichnet. Sie verkündeten ihre Weissagungen oft in rätselhaften, mehrdeutigen Formulierungen, dabei aber meist ungefragt und aus einem ekstatischen Zustand heraus. Dies antike Motiv wurde auch in die Überlieferung von Mittelalter und Früher Neuzeit übernommen und in Literatur und Kunst immer wieder aufgegriffen.
Giovanni Boccacio
Von den erlychten frowen
Straßburg: Johannes Prüß, 1488
Badische Landesbibliothek, S̅d 3
Große Berühmtheit erlangte auch die Seherin Kassandra. Als eines der vielen Kinder des Königs von Troja gilt sie als Apollonpriesterin. Allerdings erzürnte sie den Gott, indem sie seine Verführungsversuche zurückwies. Als Strafe verfügte er, dass forthin niemand mehr ihren Visionen Glauben schenken solle. So steht sie bis heute sprichwörtlich für einen Propheten, der nahendes Unheil verkündet, jedoch machtlos bleibt, dieses Unheil abzuwenden, da ihm niemand glaubt. In dieser Rolle wurde sie über die Jahrhunderte hinweg fast ununterbrochen immer wieder aufgegriffen, dargestellt und in der Literatur verarbeitet.
Hartmann Schedel
Das Buch der Croniken und Geschichten.
Nürnberg: Anton Koberger für Sebald Schreyer und
Sebastian Kammermaister, 1493
Badische Landesbibliothek, K̅b 22
Die berühmte Weltchronik, die Hartmann Schedel (1440–1514) im Jahr 1493 in Druck gab, stellt die Geschichte der Welt seit ihrer Erschaffung dar. Sie bildet den vorläufigen Höhepunkt eines im Mittelalter beliebten Genres. Ihre Berühmtheit verdankt sie nicht zuletzt den reichen Illustrationen und dem fast zeitgleichen Erscheinen in einer lateinischen und einer deutschen Ausgabe. Auch in dieser Chronik durften die Sibyllen nicht fehlen. Jede von ihnen wird mit einem Zitat beschrieben, das jeweils auf die Ankündigung des Christentums hindeuten soll.
Sibylliakoi Chrēsmoi hoc est Sibyllina Oracula
Paris: Societas Typographica, 1599
Badische Landesbibliothek, 64 A 3452 R
Die im Mittelalter weit verbreitete Sammlung der Sibyllinischen Orakel enthält vermeintliche Orakelsprüche der 12 Sibyllen. Die Sammlung geht auf die Spätantike zurück. Allerdings war die Zuweisung einzelner Orakel an eine bestimmte Sibylle dabei weniger wichtig als die Vorhersage-Qualität der Schriften insgesamt. Bedeutung erhielt das Werk unter anderem dadurch, dass es für die Durchsetzung des Christentums stand, das aus dem Munde paganer Prophetinnen verkündet wurde. Im Mittelalter wurden diese hin und wieder auch als Argumentationshilfe gegen verschiedene konkrete Missstände eingesetzt. Noch bis weit in die Neuzeit hinein wurde die Sammlung gelesen und immer wieder neu gedruckt.
Sibyllinorum Oraculorum Libri VIII
Basel: Johannes Oporinus, 1555
Badische Landesbibliothek, 119 E 2492 R
Die Sibyllen gehen auf ein Motiv antiker Seherinnen mit vermutlich orientalischen Ursprüngen zurück, das auf verschiedene Frauen bezogen wurde. Ein römischer Autor listete bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. zehn verschiedene Sibyllen auf, die nach ihrer jeweiligen Heimat benannt wurden. So spielt etwa die Sibylle von Cumae eine Rolle in der Geschichte um Aeneas, den Stammvater Roms. Diese antike Aufzählung wurde im Mittelalter noch um zwei zusätzliche Sibyllen erweitert: die „Europäische“ und die „Agrippinische“ Sibylle. Die nunmehr 12 Sibyllen entsprachen damit der Zahl der kleinen Propheten des Alten Testaments und konnten so als heidnische Figuren in eine christliche Tradition eingefügt werden.
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