Die Ursprünge des Sozialstaats in Baden – Medizinischer Fortschritt, Armut, Soziale Fürsorge
Ausgabe der Blätter des Badischen Frauenvereins zum 50jährigen Jubiläum
Gerrit Heim 11.12.2024
DOI: https://doi.org/10.58019/cm9w-my55
Im 19. Jahrhundert änderte sich die gesellschaftliche Perspektive auf die öffentliche Sozialfürsorge fundamental. Im Zentrum der Debatte stand in den 1830er und 1840er-Jahren die so bezeichnete Soziale Frage. Aus der traditionellen, meist eher relativen Armut entwickelte sich im 19. Jahrhundert das objektiv sichtbare Phänomen der Massenarmut, das seit etwa 1830 mit dem Begriff des Pauperismus beschrieben wurde. Der medizinische Fortschritt korrelierte mit dem Bevölkerungswachstum, wodurch vor allem die Unterschichten stark anwuchsen und sich eine extreme Form der Armut ausbreitete. Die Sozialfürsorge ist also gewissermaßen die Kehrseite des medizinischen Fortschritts.
Aus einer rudimentären Versorgung Bedürftiger durch die Heimatgemeinde, wie sie in Mitteleuropa über viele Jahrhunderte Tradition hatte, entwickelte sich in Baden angesichts der Herausforderung durch die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der Industrialisierung eine umfassende Organisation der Sozialfürsorge. Damit einher ging der Aufbau eines umfassenden Gesundheitswesens.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galten noch die traditionellen Bestimmungen der Armenfürsorge. Die geltende Verordnung gegen Bettelei und Müßiggang von 1810 unterschied erstmals zwischen ehrbaren Armen – also Invaliden, Kranken, Witwen und Waisen – und arbeitsunwilligen Armen. Letztere galten als nicht unterstützungswürdig. Eine eigene Armengesetzgebung gab es jedoch bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes nicht. Für die ehrbaren Armen galt noch bis 1862 das strenge Heimatprinzip, das die Heimatgemeinde verpflichtete, für die eigenen Armen zu sorgen. Angesichts der Armut vieler ländlicher Gemeinden beschränkte sich die Armenfürsorge auch hier auf ein Minimum. Eine staatliche Gesundheitspolitik oder Waisenfürsorge gab es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht.
Die wahrgenommene Lücke füllten zunehmend privat organisierte Wohltätigkeitsvereine, die unter staatlicher Schirmherrschaft agierten. Dadurch übernahm der Staat zunehmend eine Steuerungs- und Aufsichtsfunktion über die Sozialfürsorge. Es handelte sich zwar noch nicht um ein staatliches Fürsorgemonopol, da die familiäre oder private Fürsorge weiterhin Vorrang hatte, aber es entstand eine definierte sekundäre Zuständigkeit des Staates und es erfolgte die Angliederung privat organisierter Vereine an den Staat. Die Initiative lag jedoch immer noch bei gesellschaftlichen Gruppen. Der Staat reagierte lediglich auf die Entwicklung.
Das Bedürfnis nach besserer sozialer Fürsorge korreliert mit dem medizinischen Fortschritt. Dieser Zusammenhang lässt sich exemplarisch an der gesellschaftlichen Ambivalenz gegenüber Neugeborenen aufzeigen. In der Vormoderne hielt die Gesellschaft aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit eine moralische Distanz zu diesen. Der Mangel an Gesundheitsfürsorge führte daher zu einem Mangel an sozialer Fürsorge, da die Rettung von Kindern nicht prioritär war. Verbesserungen in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge veränderten nun das Familienbild, das gesellschaftliche Verhältnis zur frühen Kindheit und zur Sozialfürsorge. Die Folgen waren vielfältig: Die Waisenfürsorge nahm neue Ausmaße an und man bemühte sich, Waisenkinder zu sittlichen Erwachsenen zu erziehen. In Baden gründete sich 1833 der Verein zur Rettung sittlich verwahrloster Kinder, der 1837 mit der Kinderverwahranstalt eine Vorstufe des Kindergartens schuf.
Parallel dazu intensivierten sich die Bemühungen, Frauen zur Erwerbstätigkeit zu befähigen und die Armut von dieser Seite her zu bekämpfen. Diese Bestrebungen gingen zum Teil eine enge Symbiose ein, da der Betrieb von Kinderverwahranstalten oft eine Verdienstmöglichkeit für arme Frauen schuf. Das veränderte Frauenbild ließ im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Krankenpflege sogar ein eigenständiges, überwiegend weibliches Berufsfeld entstehen. Medizinischer Fortschritt und Sozialfürsorge lassen sich also nicht voneinander trennen, viele Akteure waren in beiden Bereichen tätig und einige, wie die Sozialhygieniker, verbanden sie explizit miteinander.
Die Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich am Beispiel des Badischen Frauenvereins aufzeigen, der in der Geschichte der Sozialfürsorge in Baden eine herausragende Rolle gespielt hat.
Als sich 1859 unter dem Eindruck des französisch-österreichischen Krieges patriotische Frauenvereine bildeten, ergriff Großherzogin Luise von Baden die Initiative und regte die Gründung eines Badischen Frauenvereins an. Mit dieser Organisation entstand in Baden ein einflussreicher, staatsnaher und zugleich mitgliederstarker Wohlfahrtsverband mit einem ausgesprochen breiten Tätigkeitsfeld. Die Großherzogin beschränkte sich nicht auf eine bloße Schirmherrschaft, sondern verband ihr persönliches Wirken im Frauenverein mit grundsätzlichen Vorrechten bei der Besetzung des Zentralkomitees und anderer Schlüsselpositionen. Durch die Unterstützung der Großherzogin stand der Frauenverein in einem produktiven Verhältnis zur Ministerialbürokratie des Großherzogtums. Es entstand eine überkonfessionelle, gemeinnützige Organisation von und für Frauen, die bis 1937 fortbestand und dann im Deutschen Roten Kreuz aufging. Der Badische Frauenverein zeichnete sich durch seine flächendeckende Struktur aus. Er war in einem Viertel der badischen Gemeinden präsent und hatte sich in einem mühsamen Prozess auch in ländlichen Regionen etabliert, die sich bis dahin dem städtischen Vereinswesen entzogen hatten. Nach jahrzehntelangem Wachstum erreichte der Badische Frauenverein 1920 mit 94.000 Mitgliedern seinen Höchststand. Diese Mitgliederentwicklung verdeutlicht die wachsende gesellschaftliche Bedeutung des Modells ehrenamtlicher weiblicher Fürsorgearbeit.
Der Badische Frauenverein etablierte sich nach dem Ende des französisch-österreichischen Krieges in verschiedenen Bereichen der Sozialfürsorge. Er förderte die Frauenerwerbstätigkeit, betrieb Armenfürsorge, engagierte sich in der Krankenpflege und wurde so zur Keimzelle der Badischen Schwesternschaft vom Roten Kreuz. Durch den Zusammenschluss mit älteren Frauenvereinen nahm er eine dominierende Rolle in der badischen Sozial- und Krankenfürsorge ein. Vor allem in letzterem Bereich weitete der Verein seine Aktivitäten seit Ende des 19. Jahrhunderts massiv aus. Gesundheit war nicht länger Privatsache, sondern wurde zur öffentlichen Angelegenheit. Für die einzelnen Bereiche der Wohlfahrtspflege waren verschiedene Abteilungen zuständig. Die Abteilung I kümmerte sich um Frauenbildung und Frauenberufsausbildung, die Abteilung II um Jugendfürsorge, die Abteilung III um Krankenpflege und die Abteilung IV um Armenpflege und Wohltätigkeit.
Großherzogin Luise von Baden (1838-1923) © Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS I 404
Parallel zu den Fortschritten in der Medizin und der öffentlichen Gesundheitsfürsorge entwickelten sich auch andere Ansätze der Sozialfürsorge.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensivierten die Vertreter der Sozialhygiene ihre Bemühungen, die den Zusammenhang zwischen Lebensbedingungen und Gesundheitsfürsorge stärker betonten. Sie artikulierten ihre Ansätze in den Sozialhygienischen Mitteilungen. Der Karlsruher Sozialhygieniker Alfons Fischer war vor dem Zweiten Weltkrieg eine der einflussreichsten Persönlichkeiten auf diesem Gebiet in Deutschland. Die Nähe der Sozialhygiene zu zur Eugenik und Rassenhygiene diskreditierte diesen Ansatz nach 1945. Sozialhygienische Ansätze wie ein Rauchverbot oder die weitgehende Prohibition von Drogen sind aber noch heute im Alltag präsent.
Eine weitere Strömung im Feld de Sozial- und Gesundheitsfürsorge des 19. Jahrhunderts war die Homöopathie, die auf einen Impuls von Samuel Hahnemann aus dem Jahr 1797 zurückgeht. Dieser kritisierte die zeitgenössische Medizin und verwarf gewissermaßen alle medizinischen Erkenntnisse seit der Antike zugunsten einer völlig neuen Lehre. Obwohl die Homöopathie nie an Universitäten institutionalisiert wurde, verbreitete sie sich schnell. Ab den 1830er Jahren ist sie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten nachweisbar. In Deutschland lag ein Schwerpunkt in Baden und Württemberg, wo bis 1848 die Hygea als Publikationsorgan diese Positionen vertrat. Die Homöopathie gehört durch diesen regionalen Schwerpunkt auch zur Geschichte von Sozialfürsorge und medizinischem Fortschritt in Baden.
Die Badische Landesbibliothek hat in einem Digitalisierungsprojekt Quellenmaterial zur Geschichte der Sozialfürsorge und medizinischen Entwicklung in Baden digitalisiert und stellt dies in den Digitalen Sammlungen online bereit.
Literatur:
- Asche, Susanne: Biographie Großherzogin Luise von Baden, in: Blick in die Geschichte Nr. 139 (2023).
- Gatz, Erwin (Hg.): Caritas und soziale Dienste, Freiburg 1997.
- Lutzer, Kerstin: Der Badische Frauenverein. Rotes Kreuz, Fürsorge und Frauenfrage, Stuttgart 2002.
- Schröder, Christian: Armenfürsorge und katholische Identität. Südbaden und die Saarregion im historischen Vergleich (1903 – 1870), Münster 2014.
- Scheidle, Illona: Großherzogin Luise von Baden, Prinzessin von Preußen (1838–1923), Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 8/9 (2014/2015), S. 407-421, Online: https://doi.org/10.57962/regionalia-21113
- Schulze, Ute: Soziales Engagement im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Frauenverein Villingen im Spiegel lokaler Quellen, in: Villingen im Wandel der Zeit 37 (2014), S. 60-65, Online: https://doi.org/10.57962/regionalia-16808
- Schmid, Ulla K.: Der Frauenverein Schopfheim 1914–1918, in: Badische Heimat 94 (2014), S. 222-232, Online: https://doi.org/10.57962/regionalia-503
Schon 1920 spielte Werbung eine wichtige Rolle in medizinischen Zeitschriften, hier in der Zeitschrift Sozialhygienische Mitteilungen (Ausgabe vom 1. Oktober 1920)