Neugriechisch II: Ein Athener Theaterzettel
Julia von Hiller 12.1.2024 15.05 Uhr
DOI: https://doi.org/10.58019/ypze-t769
Manche Dinge legen weite Wege zurück, um Platz in unseren Sammlungen zu finden. So auch ein Theaterzettel aus dem Athener Theater von Marika Kotopouli, der die Aufführung am 15. April 1917 in Anwesenheit der griechischen Königsfamilie dokumentiert – ein hochbedeutendes Einzelstück, das niemand ausgerechnet in unserer Bibliothek vermuten würde, weshalb wir es hier für alle Welt bekannt machen.
Theaterzettel des Kotopouli-Theaters in Athen für die Vorstellung am 15. (=28.) April 1917, erste Seite. Signatur: 98 B 104082 RH. - zum Digitalisat
Der Zettel
In unserem kleinen Bestand neugriechischer Bücher aus der Schlossbibliothek Baden-Baden befinden sich auch verschiedene Ausgaben von Werken neugriechischer Dichter aus der Zeit unmittelbar vor der Exilierung der Königsfamilie wie Dionysios Solomos, Aristoteles Valaoritis, Ioannis Gryparis, Georgios Drossinis oder Ioannis Polemis, die Theodora von Baden mit ihrem Namenseintrag versehen hat. In einer Ausgabe der Gedichte von Georgios Zalokostas (1805–1858), gedruckt in Athen 1903, lag gefaltet der Theaterzettel zur Aufführung im Theater von Marika Kotopouli am 15. April 1917 (98 B 104079, Digitalisat). Dieser Tag war laut Theaterzettel ein Samstag – Griechenland übernahm erst 1923 den gregorianischen Kalender und nach der uns geläufigen Zeitrechnung war das bereits der 28. April.
Aufgeführt wurde an diesem Nachmittag das Kammerspiel „Der Schatten“ von Dario Niccodemi, woran sich noch zwei weitere Darbietungen anschlossen. Annonciert werden Ort und Zeitpunkt der Vorstellung, ihr Programm und die Eintrittspreise: Ein Platz im Parkett oder im Rang kostete 55 Drachmen, in den hintersten zwei Reihen 10 Drachmen. Nicht benötigte Eintrittskarten sollten an zwei Damen der Athener Gesellschaft zurückgegeben werden, nämlich an Katerina Botsari in der Odos Solonos 23 oder an Katerina Douma in der Odos Boukourestiu 3.
Die Prinzipalin: Marika Kotopouli. Pressefoto.
Die Prinzipalin
Marika Kotopouli (1887–1954) war eine berühmte griechische Schauspielerin, die bereits in ganz jungen Jahren ihr eigenes Theater gründete, mit dem sie über Jahrzehnte hinweg Maßstäbe setzte. Schon ihre Eltern waren Schauspieler mit eigener Theatertruppe, als Siebenjährige stand sie zum ersten Mal auf der Bühne. Ihr Debut hatte sie 1903 am Königlichen Theater in Athen, 1906 ging sie nach Paris.
Ab 1908 besaß sie ihre eigene Kompanie und ihr eigenes Theater, das Kotopouli-Theater am Omonia-Platz. Damit stand sie in direkter und sehr produktiver Konkurrenz zu der ihr gleichaltrigen Schauspielerin Kybele Andrianou (1888–1978), die Anfang des 20. Jahrhunderts Erste Schauspielerin an der Nea Skini (Neuen Bühne) war. Die eher in den Medien als zwischen den beiden Frauen selbst forcierte Rivalität sorgte für steigende Bekanntheit und etablierte beide gleichermaßen als führende Bühnenpersönlichkeiten.
Kotopoulis Repertoire reichte von Aischylos über Shakespeare, Goethe, Ibsen und Hauptmann bis hin zur modernen griechischen Dramatik und aktuellen französischen Salonstücken. 1936 wurde das Rex-Theater in der Odos Panepistimiou im Art-Deco-Stil für ihre Truppe gebaut; es beherbergt noch heute die nach ihr benannte Bühne des griechischen Nationaltheaters. Zu Lebzeiten wurde Marika Kotopouli vielfach geehrt, seit 1951 ist ein Schauspielpreis nach ihr benannt.
Die Schirmherrin: Alice Prinzessin von Griechenland, 1909. Quelle: Wikimedia Commons
Die Schirmherrin
Die außerordentliche Nachmittagsvorstellung im Kotopouli-Theater am Samstag, dem 28. (bzw. 15.) April 1917, stand unter der Schirmherrschaft Ihrer Königlichen Hoheit, der Prinzessin Alice, und wurde zum Besten der Schulspeisung in der Stadt Ioannina aufgeführt. Der König und die königliche Familie werden als anwesend annonciert.
Die Schirmherrin der Vorstellung, Alice von Griechenland (1885–1969), geborene Prinzessin von Battenberg, lebte seit 1903 in Griechenland. Sie war die Tochter des Oberbefehlshabers der britischen Marine und hatte Andreas von Griechenland geheiratet, den vierten Sohn des Königs Georg I. von Griechenland. Zum Zeitpunkt der Theateraufführung war sie 32 Jahre alt und hatte bereits vier Töchter geboren. Die zweitälteste, Theodora (1906–1969), heiratete 1931 Berthold Markgraf von Baden (1906–1963) – und über sie ist der Athener Theaterzettel in unsere Sammlungen gelangt.
Das Schauspiel: Dario Niccodemi: Der Schatten. In griechischer Sprache. Theaterzettel des Kotopouli-Theaters vom 15. (=28.) April 1917, zweite Seite. Signatur: 98 B 104082 RH
Das Schauspiel
Aufgeführt wurde an diesem Nachmittag der Dreiakter „Der Schatten“ von Dario Niccodemi (1874–1934) in einer griechischen Fassung. Der Zettel teilt mit, die Handlung spiele in der Gegenwart und zwar in Paris. Der Theatertext weiß mehr und beschreibt das Ambiente genauer: „Ein Wohnzimmer in einem prächtigen Altbau am linken Ufer der Seine, in dem sich das Museum befindet, dessen Kurator Gerardo Tregnier ist.“ Das Stück war noch ganz neu – am 11. März 1915 in Mailand im Teatro Alessandro Manzoni uraufgeführt und 1917 in Italien auch bereits verfilmt. Die deutsche Übersetzung des Dramas ist bis heute nur als unverkäufliches Bühnenmanuskript erhältlich. Die griechische Übersetzung von Kostas Kairophylas (1881–1961) ist 2007 als Band 173 in der Reihe „Welttheater“ des Athener Dodoni-Verlages erschienen.
In dem Dreiakter geht es um eine seit sechs Jahren gelähmte Frau, deren Ehemann, ein bekannter Maler, sich mit ihrer Freundin als Geliebter tröstet und mit ihr ein Kind zeugt. Als die Kranke – „Schatten der Traurigkeit in der vollen Sonne seines Erfolges“ – auf wundersame Weise plötzlich von ihrer psychogenen Lähmung gesundet und bei einem unangekündigten Atelierbesuch den Sachverhalt aufdeckt, erweist sich der Mann als Schwächling. Und für die Betrogene ergibt sich die Herausforderung, ihre ganze Leidenskraft und Seelengröße zu beweisen. Längere Auseinandersetzungen mit Ehemann und Geliebter erlauben es der Hauptdarstellerin, ein breites Stimmungsspektrum darzustellen und die Zuschauer mit psychologischer Einbildungskraft von dieser Seelengröße zu überzeugen. Am Ende leistet sie Verzicht und fügt sich in die fortdauernde Existenz ihres Schattendaseins.
Die Hauptrolle der Berta Tregnier als unglücklich leidender, aber willensstarker Frau spielte Marika Kotopouli selbst – in Deutschland übernahm später Tilla Durieux diese Rolle und gastierte damit in verschiedenen deutschen Städten. In weiteren Rollen wirkten Perikles Gavrielidis (als Gerardo Tregnier), Mitsos Myrat (als Berthas Verehrer Michele Delon), A. Marikos (als Doktor Magre), A. Miliadou (als Gerardos Geliebte Elena Preville), F. Kokou (in der Rolle der Krankenschwester) und Magda Anthopoulou (in der Rolle der Magd) mit.
Das Hirtengedicht
Im Anschluss an das Drama des Italieners rezitierte Perikles Gavrielidis noch das Gedicht „Die zwei Konstantine“ von Christos Christovasilis (1861–1937). Diese Rezitation unterstrich insbesondere den Zweck der Vorstellung, nämlich die politische Unterstützung des Epirus in dieser Zeit. Christovasilis stammte aus einem kleinen Dorf im Epirus, hatte sich als Jugendlicher während des Russisch-Türkischen Kriegs 1877/78 am griechischen Aufstand im osmanischen Epirus beteiligt und war dann als Journalist und Schriftsteller nach Athen gegangen. Als die Balkankriege 1912/13 mit dem Übergang des Epirus an Griechenland endeten, war er nach Ioannina gezogen und hatte dort die Zeitung Ελευθερία gegründet. Seine patriotischen Gedichte und Erzählungen in der Volkssprache Dimotiki haben zumeist das Landleben zum Thema.
Zum Abschluss des Programms rezitierten die Schauspieler Myrat und Gonides noch Vierzeiler und Serenaden an den Mond.
Die Politik
Was sich bis hierher so harmlos anhört, war ein politisches Statement par excellence. Ein griechisches Privattheater führt ein neues italienisches Stück auf. Die Aufführung erfolgt zum Besten der Schulen im Epirus. Eine griechische Prinzessin deutsch-britischer Herkunft übernimmt dafür die Schirmherrschaft. Und der griechische König besucht die Aufführung. Und das mitten im Ersten Weltkrieg!
Griechenland hatte zu dieser Zeit keine auch nur annähernd stabile Monarchie. Eine tiefe Spaltung bestimmte das politische Geschehen. König Konstantin I., der seine militärische und universitäre Ausbildung in Deutschland erhalten hatte, war mit einer Schwester von Kaiser Wilhelm II. verheiratet; er war deutschfreundlich eingestellt und wollte sein Land aus dem Weltkrieg heraushalten. Premierminister Eleftherios Venizelos als sein mächtiger Gegenspieler dagegen war entschieden pro-britisch und forderte den Eintritt Griechenlands in den Krieg auf Seiten der Entente, auch in der Erwartung, das griechische Staatsgebiet auf Kosten des zerfallenden Osmanischen Reiches weiter vergrößern zu können. Nachdem er durch eine Wahl bestätigt, aber vom König entlassen worden war, hatte er im Oktober 1916 in Thessaloniki eine provisorische Gegenregierung mit einer eigenen Armee gebildet, die die Macht über ganz Nordgriechenland und die Ostägäis hatte und von der Entente anerkannt wurde. Am 26. November 1916 hatte Venizelos den Mittelmächten den Krieg erklärt, während das royale Griechenland neutral zu bleiben versuchte. Dies war der Beginn des „nationalen Schismas“, das das Land in Royalisten und Venizelisten teilte. Eine Athener Theaterprinzipalin, die am 28. April 1917 eine Benefiz-Vorstellung des Königshauses ausrichtete, nahm da ganz entschieden Partei.
Es wurde auch nicht einfach für einen wohltätigen Zweck im Epirus gesammelt. Der südliche Epirus war 1913 an den griechischen Staat gefallen. Im nördlichen Epirus hatten die Albaner kein stabiles Staatsgebilde errichten können, mit Beginn des Weltkriegs hatten wiederum griechische Soldaten dieses Territorium besetzt, im März 1916 annektierte Griechenland das Gebiet. Nachdem die Entente-Mächte Italien im Londoner Vertrag von 1915 weitgehende Gebietszusagen für den Fall des Kriegseintritts auf ihrer Seite gemacht hatten, waren im August 1916 Truppen der italienischen Schutzmacht von Vlorës aus im Nordepirus einmarschiert, besetzten seit Januar 1917 vorgeblich zur Sicherung der Salonikifront auch griechisches Staatsgebiet und rückten immer weiter nach Süden vor. Am 24. April hatte die griechische Regierung dem italienischen Botschafter in Athen eine Protestnote überreicht. Ioannina, für dessen Schulen die Prinzessin Alice sammelte, wurde am 8. Juni 1917 von italienischem Militär besetzt.
Ab Februar 1917 okkupierten die Venizelisten die Ionischen Inseln. Die regulären griechischen Land- und Seestreitkräfte im südlichen Landesteil wurden auf Druck der Entente demobilisiert mit der Begründung, es müsse verhindert werden, dass die griechische Armee der Entente an der Salonikifront in den Rücken falle. Gleichzeitig führte eine am 8. Dezember 1916 verhängte Blockade durch die Entente-Mächte zur Aushungerung des Landes. Die Intervention der Entente-Staaten in Griechenland unter Missachtung der staatlichen Souveränität des Landes ging weit und unterstellte das Handeln der regulären Regierung dem eigenen Diktat. Die politischen Kräfteverhältnisse veränderten sich weiter gravierend, als im März 1917 der russische Zar abdankte und Anfang April 1917 die USA in den Krieg eintraten.
Der Umbruch
Dass der König am 28. April 1917 tatsächlich im Kotopouli-Theater gewesen sein sollte, erscheint unwahrscheinlich. Gerade hatte es im aussichtslosen Widerstand der Neutralitätsbefürworter gegen den durch die Blockade und Hungerkrise enorm gewachsenen Druck der Entente-Mächte eine neue innenpolitische Zuspitzung gegeben. Die Badische Presse meldete – wie auch andere badische Zeitungen – in der Mittagsausgabe des 28. April: „Aus Paris wird der Ausbruch einer neuen griechischen Kabinettskrise gemeldet. Lambros unterbreitete den Rücktritt des gesamten Kabinetts. Die Antwort des Königs steht noch aus. Der englische Gesandte teilte dem König die Ursache der Verstimmung der Alliierten mit. Es gehen Gerüchte um, daß infolge besonderer Vereinbarungen wichtige Ereignisse bevorstehen.“
Der König versuchte, Spiridon Lambros im Amt zu halten oder Alexandros Zaïmis, der erst im September des Vorjahres unter dem Druck der Entente demissioniert war, für die Übernahme der Regierungsgeschäfte wiederzugewinnen. Beides gestaltete sich unter den gegebenen Umständen schwierig. Schließlich übernahm Zaïmis am 4. Mai 1917 das Amt – um kurz darauf ein Ultimatum der Entente zu erhalten, das die Absetzung und Ausreise des Königs Konstantin I. und seines Thronfolgers Georg II. forderte.
Konstantin I. dankte am 11. Juni 1917 ab und ging in die Schweiz ins Exil. Ihm folgte sein zweitgeborener Sohn Alexander auf den Thron, der sich gegenüber der Entente gefügiger zeigte. Auch die Familie seines Bruders Andreas mit der Tochter Theodora ging zunächst nach Luzern ins Exil und zog dann weiter nach Paris. Ministerpräsident Zaïmis trat am 24. Juni zurück. Venizelos übernahm die Macht im ganzen Land und erklärte am 29. Juni 1917 für ganz Griechenland den Mittelmächten den Krieg.
Ob der König mitten in der Regierungskrise, die das Ende seiner Herrschaft eröffnete, Zeit für einen Theaterbesuch fand, hat sich anhand öffentlich zugänglicher Quellen nicht herausfinden lassen. Ob seine Schwägerin Alice anwesend war, ebenfalls nicht. Und überhaupt wäre es hilfreich, noch eine Besprechung dieser Theatervorstellung zu finden, aus der etwas Näheres über sie hervorginge. An der royalistischen Gesinnung von Marika Kotopouli besteht kein Zweifel: die hat sie auch sonst vielfach unter Beweis gestellt.
Anm.: Die Verfasserin kennt das Kotopouli-Theater durch Erhart Kästner, der dort am 19. November 1942 eine Aufführung von Gerhart Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt besuchte und darüber einen Text verfasste.
Literatur
Zu Marika Kotopouli
- Xenia Georgopoulou: Leading Ladies on the Modern Greek Stage: Personal and Political Rivalries from Paraskevopoulou and Veroni tu Koropouli, Kyveli and Papadaki. In: The Palgrave handbook of the history of women on stage. Hrsg. von Jan Sewell und Clare Smout. Cham: Palgrave Macmillan, 2019. - S. 357–375.
Signatur: 121 A 3612
Zur Zeitgeschichte
- Heinz A. Richter: Der Krieg im Südosten. Bd. 2. Makedonien 1915–1918. - Mainz, Ruhpolding: Rutzen, 2014. - (Peleus. 65,2).
Signatur: 114 E 4384,2 - Heinz A. Richter: Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert. Bd. 1. 1900–1939. - 2., völlig überarb. Aufl. - Mainz, Ruhpolding: Rutzen, 2015. - (Peleus. 67,1).
Signatur: 115 A 7857,1
Deutsche Quellen
- [Georgios S. Streit]: Die Vertreibung des Königs Konstantin von Griechenland. Dargestellt auf Grund amtlicher Urkunden. Hrsg. von der Deutsch-Griechischen Gesellschaft. - München: Lehmann, 1918.
Signatur: 44 A 682 - Digitalisat - Ernst von Falkenhausen: Die Erdrosselung Griechenlands. - Berlin, Wien: Ullstein, 1918. - (Ullstein-Kriegsbücher. 38).
Signatur: 123 E 273 - Digitalisat - Der Völkerkrieg. Eine Chronik der Ereignisse seit dem 1. Juli 1914. Stuttgart: Hoffmann, 1919. - Bd. 21: Fünftes Kriegshalbjahr. Von August 1916 bis Februar 1917. H. 209, S. 263–274: Die Erdrosselung Griechenlands während des fünften Kriegshalbjahres.- Bd. 22: Sechstes und siebentes Kriegsjahr. Von Februar 1917 bis Februar 1918. H. 214, S. 111–117: Der Abbruch der Beziehungen Griechenlands zu den Mittelmächten.
Signatur: 43 A 1345