Geschafft! Keine einzige unkatalogisierte Note mehr!
Julia von Hiller 2.5.2022 19.40 Uhr
DOI: https://doi.org/10.58019/k0aa-6e66
Es ist so weit: Bei uns in der BLB gibt es keine einzige handgeschriebene oder gedruckte Musiknote mehr, die nicht weltweit nachgewiesen wäre! Keine Viertelnote, keine halbe Note und ganze Noten erst recht nicht. Wir haben die Katalogisierung sämtlicher bei uns vorhandenen Notenmaterialien vollständig abgeschlossen. Damit ging eine Anstrengung zu Ende, auf die wir uns in den letzten beiden Jahrzehnten besonders fokussiert haben.
Die Jahre 2001‒2010 galten den Karlsruher Musikhandschriften. Denn unsere Bibliothek hat über die weitgehende Zerstörung ihres Bestandes im Jahr 1942 hinweg – trotz schwerwiegender Verluste auch an Musikalien – große Teile ihrer bedeutenden Sammlung von Handschriften der badischen Hofmusik des 18. Jahrhunderts bewahren können, darunter den Nachlass des langjährigen badischen Hofkapellmeisters Johann Melchior Molter, dessen Werke mit wenigen Ausnahmen nur bei uns überliefert sind. In vielen Fällen handelt es sich um singulär erhaltene Kompositionen, und sie offenbaren ein beachtliches Niveau der Musikpflege in Karlsruhe. Im Rahmen eines länderübergreifenden Dokumentationsprojekts schriftlicher musikalischer Quellen hat Dr. Armin Brinzing von der deutschen Arbeitsgruppe des Répertoire International des Sources Musicales (RISM) die 1.437 Handschriften für die BLB erschlossen. In der RISM-Datenbank sind sie leicht recherchierbar.
Die RISM-Katalogisierung bezog auch die im Bestand der Hofbibliothek enthaltenen Musikernachlässe mit ein, etwa die von Vinzenz Lachner, Clara Faisst oder Margarete Schweikert. Ausgeklammert blieben dagegen die unter eigenen Signaturen aufgestellten Nachlässe, wie jener des Komponisten Johann Wenzel Kalliwoda, ebenso die Musikalien der 1995 erworbenen Schlossbibliothek Baden-Baden und der 1999 erworbenen Musikaliensammlung der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen. Diesen Beständen haben wir uns als nächstes gewidmet.
Ignaz Pleyel: II Marches VI Allemandes pour Clavicin compose, ca. 1800. Handschrift aus der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen (Don Mus.Ms. 1564). - Zum Digitalisat
Die Donaueschinger Musikhandschriften waren bereits vor ihrer Erwerbung durch das Land Baden-Württemberg in RISM verzeichnet worden. Der Bestand ist mit 3.612 Handschriften weit umfangreicher und in mancher Hinsicht noch bedeutender als der der Karlsruher Hofbibliothek. Was bei uns 1999 angekommen und noch nicht in RISM nachgewiesen war, hat das Münchener RISM-Team freundlicherweise 2011 in der Datenbank nachgetragen. 90 Musikhandschriften, die seit 2008 zum Karlsruher Bestand hinzugekommen waren, hat Dr. Gottfried Heinz-Kronberger im August 2014 zusätzlich in RISM erschlossen, die 251 Musikhandschriften aus der Schlossbibliothek Baden-Baden hat er 2016/17 für uns katalogisiert, und den Nachlass von Johann Wenzel Kalliwoda mit 169 Handschriften durften wir 2019 zur Bearbeitung nach München geben.
Als nun alle älteren Musikhandschriften aus den Hofbibliotheken erschlossen waren, blieben noch zwölf unserer neueren Musikernachlässe übrig, insgesamt 1.063 Signaturen. Den Richtlinien von RISM gemäß werden Materialien des 20. Jahrhunderts nicht dort bearbeitet: zu viel Älteres aus den Katakomben der Bibliotheken weltweit ist noch gar nicht erschlossen und hat Priorität. Aber wir erhielten die wunderbare Möglichkeit, die RISM-Datenbank von Karlsruhe aus befüllen zu können. Almut Ochsmann M.A. hat 2019/20 unsere Musikernachlässe in RISM erfasst; mit dem Nachweis von Medienkunstwerken, elektroakustischen Musikwerken und multimedialen Werken brachte sie dabei auch völlig neue Werkarten ein.
Johann Wenzel Kalliwoda: Valse sentimentale, 1841. Autograph aus der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen (Don Mus.Ms. 857). - Zum Digitalisat
Und dann ist da neben all den Handschriften auch noch der riesige Bestand historischer Musikdrucke. Daran hat sich im September 2009 unsere Musikbibliothekarin Janina Späth gesetzt, und sie hat neben ihren anderen Dienstaufgaben das enorme Pensum seither konzentriert, beharrlich und mit nie nachlassender Freude abgearbeitet.
Von September 2009 bis Dezember 2011 hat sie die 3.352 Donaueschinger Musikdrucke katalogisiert, mehr als die Hälfte davon war noch an keiner anderen Bibliothek nachgewiesen. Dabei fand sich dann noch ein 1999 aus Donaueschingen übernommener „Restbestand“ völlig unverzeichneter Musikdrucke: 17 verstaubte, mit Bindfaden zusammengehaltene Konvolute, insgesamt vier Regalmeter. Den haben zunächst einmal unsere Restauratorinnen gereinigt und in 40 Archivboxen angemessen verpackt. Dann hat ihn Frau Späth bis September 2014 inventarisiert und katalogisiert. Dabei kamen noch einmal 1.411 vielfach völlig unbekannte historische Drucke hinzu.
Als nächstes kümmerte sich Frau Späth mit Unterstützung durch Wilhelm Pfaff als Hilfskraft und zuletzt auch durch Alisa Hecke als Musikbibliothekarin um die Karlsruher Musikdrucke. Die fanden sich bis dahin nur in einem Zettelkatalog mit 27 Schubladen und 29.036 Katalogkarten. Längst konnte sich kein Benutzer mehr vorstellen, dass man bei uns auf so etwas noch angewiesen sei – vor allem nicht, nachdem wir die Retrokonversion des Allgemeinbestandes abgeschlossen hatten und das Gros der Katalogschränke aus dem Foyer verschwunden war. Der Notenbestand war sozusagen vergessen und es war höchste Zeit für dieses Projekt. Mit Tücken: So manchen Sammelband hatten unsere Vorgänger bloß so ins Regal gestellt und sich um seine fachgerechte Erschließung gedrückt. Bis März 2018 waren 14.312 Katalogdatensätze neu erstellt. Und sogar von diesem auch vieles Neuere umfassenden Bestand erwiesen sich 30% als nur bei uns vorhanden.
Natürlich geht noch mehr: Bei der Erschließung der 1.765 Musikdrucke aus der Schlossbibliothek Baden-Baden zwischen April 2018 und Mai 2020 – mit Noten hauptsächlich aus dem 19. Jahrhundert – erwiesen sich 70% als anderwärts nicht vorhanden.
Und dann blieb immer noch etwas zum Katalogisieren übrig, nämlich diejenigen Musikdrucke, die in Musikernachlässen enthalten sind. Mir fiel das auf, als ich gedrucktes Notenmaterial des Komponisten Franz Philipp nachkaufen wollte, weil ich ja dachte, wir hätten nun alles elektronisch erfasst. Ich wunderte mich so lange darüber, dass wir das, was die Antiquariate anboten, alles nicht besitzen sollten, bis ich selber drauf kam: Wir haben das, aber es befindet sich in Philipps Nachlass! Ab Juni 2020 hat Frau Späth auch diese 458 Fälle erledigt.
Badischer Jubelmarsch, componiert zu Ehren Seiner Königlichen Hoheit Friedrich Wilhelm Ludwig Großherzog von Baden und höchst Demselben anläßlich des 25 jährigen Regierungs-Jubiläums überreicht von Peter Beck. München 1877. Handschrift aus der Schlossbibliothek Baden-Baden (B 209). - Zum Digitalisat
Über die Erfassung der Musikdrucke sind ein Wechsel des lokalen Bibliothekssystems, ein Wechsel des Katalogisierungsregelwerks und ein Wechsel der Verbunddatenbank hinweggegangen. Sie haben sich als verzögernd erwiesen, aber den Schwung und die Expertise des winzigen BLB-Teams um Frau Späth nicht behindert. Jetzt sind wir fertig. Auch kein unkatalogisierter Schnipsel einer einzigen gedruckten Musiknote mehr im ganzen Haus. Das kann wohl kaum eine andere Altbestandsbibliothek von sich sagen.
Parallel dazu haben wir in den letzten zwölf Jahren mehr als 500.000 Images von bisher 7.800 Musikhandschriften und -drucken in unsere Digitalen Sammlungen überführt und sind neben den viel größeren Staatsbibliotheken in Berlin, München und Dresden die einzige deutsche Bibliothek, die sich im großen Stil der Musikaliendigitalisierung widmet. Voraussetzung dafür war der elektronische Nachweis der Metadaten, um den sich hartnäckig und erfolgreich vor allem auch Brigitte Knödler-Kagoshima als Chefin unserer Musiksammlung und Ute Bauer als unsere Metdatenspezialistin gekümmert haben. Die Forschung dankt es uns. Die Nutzung unserer Musikalien-Digitalisate boomt. Ob in Berlin, München, Dresden oder in Burundi: Unsere Musik ist global lesbar und wird überall angeklickt. Der Mehrwert, den unsere hochkonzentrierte und hocheffektive Musikalienerschließung für die Forschung erreicht hat, liegt auf der Hand. Die Digitalisierung wird ihr noch eine Weile nachfolgen.
Ich bedanke mich beim RISM-Team München für die fantastische Zusammenarbeit und gratuliere dem gleichsam nur „nebenberuflich“ in der Erschließung tätigen Expertenteam um Frau Späth zu seiner wunderbaren Leistung. Jetzt stürzen wir uns in die Bearbeitung unserer völlig unzulänglich bis gar nicht erschlossenen Sammlung von Landkarten. Aber davon ein andermal.
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