Nachlass Friedrich Lautenschlager
Julia von Hiller 15.8.2023 12.40 Uhr
DOI: https://doi.org/10.58019/hfkk-jp61
Von einigen ihrer früheren Direktoren besitzt die Badische Landesbibliothek nachgelassene Materialien, etwa von Alfred Holder (1840–1916), langjährigem Chef der Handschriftenabteilung und von 1911 bis 1916 Direktor der Großherzoglichen Hof- und Landesbibliothek; von ihm sind 150 Faszikel mit Korrespondenzen, Werkmanuskripten, Kollegnachschriften und Druckvorlagen erhalten (K 1455–1605), die Eduard Holder nach dem Tod seines Vaters der Bibliothek überlassen hat. Auch von Theodor Längin (1867–1947), der zusammen mit Holder seit 1904 die Leitung der Großherzoglichen Hof- und Landesbibliothek wahrnahm und ihm 1916 bis 1932 als Direktor nachfolgte, sind Nachlassmaterialien vorhanden, die die Bibliothek als Geschenk seines Sohnes Folkmar Längin erhalten hat, darunter Kollegnachschriften, Korrespondenzen, Werkmanuskripte und Notizhefte (K 2696–2706). Beide Nachlässe wurden während des Zweiten Weltkriegs ausgelagert und haben daher die Vernichtung des Bestandes am 3. September 1942 überstanden. Die in der Badischen Landesbibliothek selbst verwahrten Zeugnisse ihrer beider dienstlicher Tätigkeit dagegen sind der Brandnacht vollständig zum Opfer gefallen.
Direktor der Badischen Landesbibliothek zu diesem Zeitpunkt war Friedrich Lautenschlager (1890–1955), der 1936 die Leitung der Bibliothek übernommen hatte. Auch seine dienstlichen Unterlagen sind in der Septembernacht 1942 verbrannt, so dass die Bibliotheksakten nur über die nachfolgende Zeit Auskunft geben. Die Nachkriegszeit und der Wiederaufbau der Badischen Landesbibliothek sind aktenmäßig recht gut dokumentiert, das entsprechende Aktenmaterial hat die Badische Landesbibliothek 1995 an das Generallandesarchiv abgegeben (Bestand 573-2, Findbuch), Lautenschlagers Personalakte mit Unterlagen aus dem Zeitraum 1943–1955 befindet sich noch im Hause. Diese Dokumente werden nun durch einen privaten Teilnachlass ergänzt, der viele Jahrzehnte lang in einem Wohnzimmerschrank von Lautenschlagers Witwe Margarete gelegen hat und den seine Enkelin Christiane Rittberger vor kurzem der Badischen Landesbibliothek übergab (K 3497, Findbuch). Dazu gehören Unterlagen aus seiner Studienzeit, Aktenstücke betreffend die Badische Landesbibliothek, Ausweispapiere und andere persönliche Unterlagen, außerdem Kondolenzschreiben und Zeitungen.
Lautenschlager als junger Mann. Foto: Familienbesitz
Zur Person
Friedrich Lautenschlager wurde am 2. Oktober 1890 als Sohn des Gastwirts Adolf Lautenschlager und seiner Frau Christine in Niefern im Enzkreis geboren. Auch aufgrund einer angeborenen körperlichen Beeinträchtigung durch verkrümmte Hände strebte er schon früh in eine akademische Laufbahn. Nach dem Abitur am Reuchlin-Gymnasium in Pforzheim 1910 – aus der Schulzeit hat sich in Lautenschlagers Nachlass der Jahresbericht des Gymnasiums 1909/10 erhalten – studierte er die Fächer Geschichte, Deutsch, Französisch und Latein in Berlin, Freiburg und Heidelberg, wo er im Mai 1915 bei Hermann Oncken mit der Arbeit Die Agrarunruhen in den badischen Standes- und Grundherrschaften im Jahre 1848 promoviert wurde. Im folgenden Jahr legte er das Staatsexamen für den höheren Schuldienst ab.
Bereits 1915 übernahm Lautenschlager die Redaktion der Bibliographie der badischen Geschichte, die 1908 von der Badischen Historischen Kommission ins Leben gerufen worden war. Ebenfalls 1915 wurde er als wissenschaftlicher Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Heidelberg angestellt, denn die Stelle bei der Kommission war nur eine Halbtagsstelle – zunächst als Volontär, ab 1919 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, ab 1921 als außerplanmäßiger Bibliothekar und ab 1924 als planmäßiger Bibliothekar. Im Mai 1921 heiratete er Margarete Hönicke, die Tochter des Heidelberger Buchhändlers Paul Hönicke; das Paar bekam vier Kinder. 1929 wurde Lautenschlager Mitglied der Badischen Historischen Kommission; in diesem Jahr erschien der erste Band der Bibliographie, die er bis 1954 bearbeitete und die mit seinem Namen als „der Lautenschlager“ bis heute untrennbar verknüpft ist.
Margarete Hönicke und Friedrich Lautenschlager um ca. 1920. Foto: Familienbesitz
Kolleghefte
Zu den frühesten Zeugnissen des Nachlasses gehören Lautenschlagers Heidelberger und Berliner Vorlesungsmitschriften. Sieben Kladden haben sich erhalten (K 3497,2-8). Sie dokumentieren die Vorlesungen „Schriftwesen und Paläographie des Mittelalters“ und „Das Zeitalter der Kreuzzüge“ von Otto Cartellieri im Wintersemester 1910/11 und im Sommersemester 1911 an der Universität Heidelberg, die Vorlesung „Geschichte, Wesen und Bedeutung der öffentlichen Meinung, der Presse und des Journalismus in Deutschland“ von Adolf Koch im Wintersemester 1910/11 sowie die Vorlesungen „Allgemeine Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges“ und „Verfassungsgeschichte der neueren Zeit im Überblick“ von Hermann Oncken im Sommersemester 1911 ebendort, außerdem die Vorlesungen „Weltgeschichte. Vierter Teil. Von 1789 bis 1867“ von Hans Delbrück, „Goethe und Schiller“ von Erich Schmidt und „Allgemeine Geschichte der Philosophie“ von Alois Riehl in Berlin im Wintersemester 1911/12. Anhand dieser Mitschriften lässt sich gut nachvollziehen, mit welchen Wissensinhalten Lautenschlager sich als Student befasste und wie er sie aufnahm.
Großformatig und in erlesenem Latein liegt auch die Freiburger Immatrikulationsurkunde Lautenschlagers vom 4. Mai 1912 im Nachlass (K 3497,1). Aus Freiburg sind allerdings keine Kolleghefte überliefert.
Direktor der Badischen Landesbibliothek 1936–1945
Als im Jahr 1935 Karl Preisendanz, Direktor der Badischen Landesbibliothek, die Leitung der Universitätsbibliothek Heidelberg übernahm, wechselte Lautenschlager in umgekehrte Richtung von Heidelberg nach Karlsruhe und übernahm die Direktion der Badischen Landesbibliothek am Friedrichsplatz. Mit Unterbrechung in den Jahren 1945 bis 1948 leitete er die Bibliothek bis zu seinem Tod im Jahr 1955. Die Berufung in das Amt erfolgte aus fachlichen Gründen – als langjähriger Chef der Landesbibliographie mit umfassender Kenntnis der landeskundlichen Literatur war er für diese Position besonders prädestiniert, auch sein bisheriges organisatorisches Wirken als Bibliothekar qualifizierte ihn für das Amt und da er sich bis dahin politisch unauffällig verhalten hatte, erfolgte seine Ernennung mit Zustimmung der NSDAP-Gauleitung Baden, obwohl er zu diesem Zeitpunkt kein Parteimitglied war. Entsprechende Unterlagen der Parteidienststellen sind im Generallandesarchiv vorhanden (enthalten in 465 c).
Am Anfang seiner Karlsruher Dienstzeit stand 1936 der Erlass eines ordentlichen Pflichtexemplargesetzes für Baden, das noch sein Vorgänger Preisendanz forciert hatte. Es machte über gedruckte und auf andere Weise vervielfältigte Schriften hinaus auch Karten, Bild- und Tonwerke abgabepflichtig und behielt bis 1964 Geltung. Die erste Zeit war damit gefüllt, den Kreis der Ablieferungspflichtigen restlos zu erfassen und die entsprechenden Geschäftsgänge zu etablieren. Lautenschlagers Präzisierungswünschen entsprechend kam es 1939 noch zu einer Durchführungsverordnung, die weitere Einzelheiten klärte. Auch die bisher nicht explizit enthaltene Verpflichtung öffentlicher Körperschaften zur Ablieferung von Amtsdruckschriften wurde nachgetragen.
Zu den weiteren Aufgaben Lautenschlagers im neuen Amt gehörte die Sekretierung der politisch unerwünschten Literatur gemäß der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, die die Reichsschrifttumskammer seit Ende 1935 herausgab. Tatsächlich wurden die Katalognachweise zu Werken politisch missliebiger und jüdischer Autoren aus dem Benutzerkatalog entfernt. Dieser Katalog hat die Brandnacht im September 1942 im Luftschutzkeller der Bibliothek unversehrt überstanden, so dass das im Einzelnen auch nachvollziehbar ist. Da die Bibliothek allerdings von 1876 bis 1886 einen gedruckten Katalog ihrer Bestände herausgegeben hatte, den sie nachfolgend durch jährliche gedruckte Zugangsverzeichnisse ergänzte, ist der faktisch bis zur Mitte der 1920er Jahre erworbene Bestand auf andere Weise festzustellen. Die Bücher selbst standen – wie in allen anderen wissenschaftlichen Bibliotheken auch – weiterhin in den Magazinregalen. Sie sind aber dann mit dem Gesamtbestand im September 1942 in Flammen aufgegangen.
Zugleich war die Badische Landesbibliothek, wie andere Kulturgut verwahrende Institutionen auch, Nutznießerin der Enteignung von aus rassischen und politischen Gründen verfolgten Personen und Körperschaften. Der Generalbevollmächtige für den Landeskommissarbezirk Karlsruhe ernannte Lautenschlager zum Sachverständigen für die Begutachtung beschlagnahmter Sammlungen. Gemäß seinem eigenen Jahresbericht, der im Generallandesarchiv überliefert ist, hatte Lautenschlager im Winter 1940/1941 „eine Reihe jüdischer Büchersammlungen in Karlsruhe, Pforzheim und Bühl besichtigt und die Sicherstellung wertvoller Teile derselben in der Landesbibliothek veranlasst.“ Begutachtet hat er auch die Privatbibliothek seines Amtsvorgängers Ferdinand Rieser, der die Badische Landesbibliothek ab Dezember 1932 geleitet hatte und im April 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Staatsdienst entlassen worden war; ob Teile davon in die Landesbibliothek gelangten und dort 1942 verbrannt sind, hat sich auch im Rahmen eines 2016 bis 2020 laufenden Provenienzforschungsprojekts nicht mehr aufklären lassen.
Brief von Ferdinand Rieser an Friedrich Lautenschlager. Badenweiler, 7. April 1927. Nachlass Friedrich Lautenschlager. Badische Landesbibliothek, K 3497,59. - Digitalisat
Gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Lautenschlager bereits die Auslagerung der Handschriften und Inkunabeln an verschiedene Bergungsorte zu organisieren, doch um weitere Maßnahmen zur Sicherung bzw. Bergung der Bibliotheksbestände bemühte er sich anschließend vergeblich. Im September 1942 wurden seine Bibliothek, ihre Buchbestände, ihre Verwaltungsunterlagen, ihr Inventar – ihr gesamter Besitz in einer einzigen Bombennacht komplett zerstört. 367.000 Bände fielen den Flammen zum Opfer. Lautenschlager selbst traf um 3 Uhr nachts an der brennenden Bibliothek ein und konnte ebenso wenig noch etwas retten wie Bibliotheksrat Richard Valentin Knab (1883-1968), der in dieser Nacht als Brandwache eingeteilt war. Nur der bereits erwähnte Alphabetische Zettelkatalog überstand den Brand; mit 300.353 Titelkarten weist er den bis zur Vernichtung vorhandenen Bestand nach und kann dafür bis heute als historische Quelle herangezogen werden.
Nach der Brandnacht startete Lautenschlager umgehend im Oktober 1942 mit Unterstützung durch die zuständigen Reichsbehörden den Wiederaufbau seiner Bibliothek. Er sandte zahlreiche Bittschreiben um Überlassung von Doppelstücken oder entbehrlichem Bibliotheksgut, bevorzugt von badischem Schrifttum, an Bibliotheken, Archive, Schulen, Behörden etc.; zwar erlaube die derzeitige Lage die sofortige Übernahme abzugebender Bestände nicht, aber er bitte doch darum, über diese Bücher nicht anderweitig zu verfügen und sie für den späteren Wiederaufbau der Badischen Landesbibliothek aufzubewahren. Die Angeschriebenen erklärten sich meistens bereit, durch Abgabe von Büchern am Wiederaufbau mitzuwirken. Unmittelbar nach der Zerstörung erhielt die Badische Landesbibliothek zudem außerplanmäßig staatliche Wiederaufbaumittel in Höhe von 100.000 Reichsmark. Diese ausschließlich für die Ersatzbeschaffung verlorener Bücher und Zeitschriften bestimmten Mittel waren bis Anfang 1944 restlos verausgabt. Anschließend wurde der Landesbibliothek ein Aufbaukredit in Höhe von 50.000 Reichsmark gewährt, von dem bis Februar 1945 weitere 38.888,62 Reichsmark ausgegeben wurden. Die bis Anfang 1944 aus diesen Mitteln finanzierten Neuerwerbungen und die zahlreichen geschenkweise oder durch Behördenabgabe eintreffenden Bücher, etwa 12.000 Bände, wurden im Frühjahr 1944 in die Salzbergwerke Bad Friedrichshall-Kochendorf und Bad Friedrichshall-Jagstfeld ausgelagert.
Das brennende Sammlungsgebäude am Friedrichsplatz in der Bombennacht vom 2. auf den 3. September 1942. Foto: Stadtarchiv Karlsruhe
Eine Mappe „LB“ im Nachlass Lautenschlagers sammelt Dokumente aus der Zeit des Kriegsendes, darunter Lautenschlagers Manuskript seines Jahresberichts 1942/43 und 1943/44 (K 3497,13), der ausführlich die nach dem Brand getroffenen Maßnahmen zum Wiederaufbau sowie die Wiederherstellung des Bibliotheksbetriebs in laufend wechselnden Provisorien beschreibt und dabei den bis 31. März 1944 wieder zusammengetragenen Bestand auf 68.758 Bände beziffert. Anschriftenlisten von Ende Januar 1945 (K 3497,15-17) belegen, dass zu dieser Zeit sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wegen Evakuierung oder Krankheit nicht im Dienst waren. Ebenfalls hier findet sich das Manuskript von Lautenschlagers Memorandum über die Badische Landesbibliothek (K 3497,14), abgefasst im Jahr 1945 nach Ende der französischen Besatzung, aber offenbar noch vor seiner Entlassung. Die Unterlagen hat Lautenschlager sicher auch deshalb persönlich an sich genommen, weil in den Personalübersichten die jeweilige Mitgliedschaft in der NSDAP bzw. der SA genau aufgeführt ist.
Spruchkammerverfahren
Nach der Besetzung Badens durch französische Truppen wurde Lautenschlager am 8. Mai 1945 seines Amtes enthoben. Die amerikanische Militärregierung bestätigte diese Entlassung am 8. August 1945: „will be dismissed immediately“. Die Bibliotheksleitung wurde bis auf weiteres der Bibliotheksinspektorin Irma Hasenstab (1894–1974) übertragen, deren Wohnung in der Yorckstraße ausgebombt war und die deshalb im Keller der Bibliothek wohnte, wo sie zugleich die Bewachung der Arbeitsmittel übernahm. Sie unterschrieb im Juni 1945 auch eine Arbeitsbescheinigung für ihren Direktor, als die Badische Landesbibliothek aufgrund Anordnung der französischen Militärregierung das bei ihr vorhandene nationalsozialistische Schrifttum festzustellen beauftragt war. 1946 wurde die Bibliotheksleitung dem Bibliotheksrat Richard Valentin Knab anvertraut.
Meldekarte Friedrich Lautenschlagers für den Bezug von Lebensmittelkarten als Beschäftigter des Landesarbeitsamtes Württemberg-Baden, 1946. Nachlass Friedrich Lautenschlager. Badische Landesbibliothek, K 3497,10. - Digitalisat
Die Entlassung ohne Bezüge traf Lautenschlager hart, weil er noch Frau und Töchter zu versorgen hatte. Aufgrund seiner Behinderung konnte er auch nicht alternativ irgendwelche praktischen Arbeiten ausüben, war auch ganz offiziell von der Verpflichtung zu Aufräumarbeiten bei der Trümmerbeseitigung entbunden. Hinzu kam der Kummer darüber, dass der Sohn Gerhard in Russland verschollen blieb. Seine bibliographische Arbeit hatte zum Kriegsende einen herben Rückschlag erlitten, als französische Soldaten das in seiner Wohnung verwahrte handschriftlich erstellte Register der Bibliographie der badischen Geschichte vernichteten. Ab Februar 1946 durfte er mit Genehmigung der Militärregierung als „common laborer (subordinate labor)“ im Generallandesarchiv arbeiten und seine bibliographische Arbeit fortsetzen; Unterlagen dazu enthält sein Nachlass, das Generallandesarchiv verwahrt auch seine Personalakte als Mitarbeiter aus dieser Zeit. Weil er in der Landesbibliothek, wo zu dieser Zeit vom Höheren Dienst nur Richard Valentin Knab anwesend war, dringend für die Rückführung der Bestände aus den Bergungsorten und für den Wiederaufbau gebraucht wurde, stellte die Badische Landesbibliothek einen „Antrag auf vordringliche Behandlung des Spruchkammerverfahrens“ und erwirkte eine Beschleunigung des Verfahrens. Im Mai 1947 wurde Anklage erhoben, die Klageschrift ist in seiner Spruchkammerakte, aber auch in seinem privaten Nachlass enthalten. Lautenschlager, der am 1. Oktober 1941 der NSDAP beigetreten war, wurde mit der Klage in die Gruppe der Belasteten eingereiht.
Das 1947 durchgeführte Spruchkammerverfahren war von größter Bedeutung für Lautenschlager, denn er sah sich durch den Vorwurf, er sei ein aktiver Nationalsozialist gewesen, in seiner persönlichen Integrität beschädigt. Er selbst plädierte für seine Einordnung in die Gruppe der Entlasteten. Zwei Faszikel aus seinem persönlichen Nachlass (K 3497,67-68) dokumentieren dies parallel zur behördlichen Überlieferung im Generallandesarchiv. Enthalten sind Schriftwechsel zu seiner Amtsenthebung aus den Jahren 1945 und 1946, betreffend auch den durch Entlastungszeugnisse unbescholtener Persönlichkeiten unterstützten Versuch, die Entlassung rückgängig zu machen. Enthalten ist der Fragebogen der Militärregierung zur Entnazifizierung – aus dem hervorgeht, er habe bei den Wahlen im November 1932 und im März 1933 die Deutsche Volkspartei gewählt – sowie der Fragebogen der Militärregierung zu seinen Vermögensverhältnissen von September 1945.
Enthalten ist auch Lautenschlagers Erwiderung auf die Klageschrift der Spruchkammer vom 21. Mai 1947. Zu seiner Entlastung brachte er vor, er habe sich als spät und nur unter Druck eingetretenes NSDAP-Parteimitglied dem Drängen zur Mitarbeit mit dem Argument starker dienstlicher und wissenschaftlicher Inanspruchnahme erfolgreich zu entziehen vermocht und seine in der Kriegszeit nicht mehr vermeidbare Parteiarbeit auf das Einsammeln gemeinnütziger Spenden in der Rolle eines Blockhelfers beschränkt. Auch verdanke er seine Ernennung zum Direktor der Badischen Landesbibliothek nicht seiner Parteizugehörigkeit, da er erst mit Wirkung zum 1.10.1941 in die NSDAP eingetreten sei. Bezeugt sei außerdem seine demokratische Weltanschauung, auch durch seine wissenschaftlichen Arbeiten zur 1848er Revolution, und sein den Nationalsozialismus missbilligendes dienstliches Verhalten als Bibliotheksdirektor, das unter anderem durch seinen Einsatz für kirchliche Interessen und für jüdische Persönlichkeiten, aber auch durch fortgesetzten Erwerb von „unerwünschter“ Literatur belegt sei. Schließlich habe sich seine Ablehnung nationalsozialistischer Gewaltmethoden zu aktivem Widerstand verdichtet: Das Ansinnen des Gauleiters Robert Wagner, das Elsass wieder „deutsch“ zu machen und zu einem „kulturellen Mustergau“ zu entwickeln und deshalb die Badische Landesbibliothek als Oberrheinische Landesbibliothek mit Zuständigkeit für den gesamten Gau Baden-Elsass nach Straßburg zu verlegen, hatte durch die Vernichtung der Buchbestände in Karlsruhe Auftrieb bekommen. Dem habe er sich vehement widersetzt, er habe Anordnungen nicht befolgt und sei dabei häufig persönliche Risiken eingegangen.
Seine Aussagen untermauerte Lautenschlager mit insgesamt sechzehn eidesstattlichen Erklärungen, von denen diejenige des aus dem Internierungslager Gurs zurückgekehrten jüdischen Antiquars Albert Carlebach (K 3497,61) besonderes Gewicht hat; von Carlebach liegt auch ein hektographierter Bericht Rückkehr nach Heidelberg nach sechseinhalbjähriger Deportation in Lautenschlagers Nachlass. Auch der der Deportation entgangene jüdische Historiker Paul Hirsch hielt Fürsprache für Lautenschlager (K 3497,29). Dieser nahm zudem seinen in Gurs umgekommenen Amtsvorgänger Ferdinand Rieser als Gewährsmann in Anspruch; ihm habe er nach der Entlassung weiterhin Zutritt zur Badischen Landesbibliothek gewährt und mehrfach geholfen – ein Brief Ferdinand Riesers vom 7. April 1927 befindet sich bei den Unterlagen (K 3497,59). Die Originaldokumente bzw. Abschriften der Entlastungszeugnisse liegen in Lautenschlagers persönlichen Nachlass.
Im September 1947 wurde das Urteil gesprochen. Die Spruchkammer schloss sich in der Beweisaufnahme allen Argumenten Lautenschlagers an. Das Urteil, ebenfalls im Nachlass Lautenschlagers erhalten, (K 3497,67) stufte ihn nach dem Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus als Mitläufer ein.
Wiederantrittsrede Lautenschlagers von April 1948, notiert auf der Rückseite eines Katalogzettels der Landesbibliographie. Nachlass Friedrich Lautenschlager. Badische Landesbibliothek, K 3497,73. - Digitalisat
Nachkriegszeit
Im April 1948 erreichte Lautenschlager seine zunächst kommissarische Wiedereinsetzung als Direktor der Badischen Landesbibliothek. Im Nachlass ist die auf die Rückseite einer Karteikarte der Landesbibliographie formulierte kurze Rede erhalten, die er anlässlich seiner Wiedereinsetzung gehalten hat. Später wurde er auch wieder in das Beamtenverhältnis berufen. Bis zu seinem Tod im aktiven Dienst im Januar 1955 bemühte sich Lautenschlager vor allem darum, die Kriegsverluste auszugleichen und den Nutzerinnen und Nutzern wieder einen leistungsfähigen Bestand anzubieten. 180.000 Bände waren bis dahin neu zusammengetragen, auch durch den Ankauf ganzer Privatbibliotheken wie denen des Germanisten Edwin Carl Roedder (1873–1945), des Rastatter Gymnasiallehrers Max Bruder (vgl. die Akte im GLA: 573-2 Nr. 45) und des Dichters Alfred Mombert (1872–1942).
Zugleich musste Lautenschlager eine funktionsfähige Bibliotheksverwaltung und -nutzung in der mehr als notdürftigen Behelfsunterkunft im Magazintrakt des Generallandesarchivs organisieren, wo die Bibliothek im Januar 1950 wieder für die Benutzerinnen und Benutzer geöffnet wurde. In seinem Nachlass befindet sich die Einladungskarte zum Festakt der Wiedereröffnung. Der Wiederaufbau der Bibliothek an alter Stelle war in den 1950er Jahren nicht zu erreichen. Einige handgemalte Geburtstagskarten des Bibliothekskollegiums und eine kleine Sammlung Zeitungsausschnitte ergänzen die Dokumentation.
Glückwunschkarte des Kollegiums der Badischen Landesbibliothek zu Lautenschlagers 60. Geburtstag am 2. Oktober 1950. Nachlass Friedrich Lautenschlager. Badische Landesbibliothek, K 3497,77. - Digitalisat
Der 23. Oktober 1954 war Lautenschlagers letzter Arbeitstag in der Landesbibliothek. Eine Krebserkrankung hatte sich seiner bemächtigt. Er erholte sich nicht mehr und starb am 11. Januar 1955. Eine Mappe im Nachlass sammelt die Trauerbriefe, die seine Familie, aber auch seine Bibliothek versendeten, die Todesanzeigen in den Badischen Neuesten Nachrichten und in der Pforzheimer Zeitung (K 3497,78), die Kondolenzschreiben, die seine Witwe Margarete Lautenschlager erhielt (K 3497,85-135), aber auch die Nachrufe, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen (K 3497,84) – die zahlreichen Beileidsbekundungen, die an die Bibliothek gerichtet wurden, finden sich in Lautenschlagers Personalakte.
Wie ein beiliegender maschinenschriftlicher Bericht erweist, versammelten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliothek an seinem Todestag zu einer Gedenkstunde in Lautenschlagers Dienstzimmer und nahmen sämtlich zwei Tage später an der Beerdigung auf dem Hauptfriedhof Karlsruhe teil. Auch die Ansprachen, die sein Stellvertreter und Nachfolger Franz Anselm Schmitt (1908–1978) und der Personalratsvorsitzende Hugo Kaller bei der Trauerfeier hielten, sind mit abgeheftet (K 3497,81-82). Alle Nachrufe bezeugen die besondere menschliche Güte und Warmherzigkeit, die Bescheidenheit und Selbstlosigkeit, die den Verstorbenen auszeichnete, ebenso wie seine Gewissenhaftigkeit und seinen aufopferungsvollen Einsatz für Bibliothek und Bibliographie unter schwierigsten Bedingungen. Ulrich Weber (1921–2017) sprach in seinem Nachruf (K 3497,136) von einem „Leben hingegebener Gelehrtenarbeit, in dem Schlichtheit und unbeirrbare intellektuelle Redlichkeit oberstes Gesetz gewesen waren.“
Reisepass Friedrich Lautenschlagers vom 29. April 1953. Nachlass Friedrich Lautenschlager. Badische Landesbibliothek, K 3497,12. - Digitalisat
Lautenschlagers Neffe Friedrich Leicht hat 2001 zuletzt an ihn erinnert und 2005 die Benennung eines Fußweges nach seinem Onkel in dessen Geburtsort Niefern initiiert. Aus seiner Hand stammt ein Ordner mit Unterlagen zu Friedrich Lautenschlager, den die Familie der Badischen Landesbibliothek zur Einsicht überlassen hat, darunter Reproduktionen von Familienfotos und Briefen aus der Studienzeit, seiner Karlsruher Ernennungsurkunde 1936, Personenstandsurkunden der Familie, aber auch originale Briefe Friedrich Lautenschlagers an den Vater und die Schwester Hermine. Die hier gezeigten Fotos dürfen mit Erlaubnis der Familie verwendet werden.
Wir danken den Erben von Friedrich Lautenschlager herzlich für die Schenkung!
Und Ralf Gnosa für die Katalogisierung des Nachlasses in der Datenbank Kalliope!
Quellen in der Badischen Landesbibliothek
- K 3497: Nachlass Friedrich Lautenschlager - zum Findbuch
- Personalakte Friedrich Lautenschlager
- Digitalisierte Dokumente
Quellen im Generallandesarchiv
- 235 Nr. 6736: Akten des Badischen Kultusministeriums, Großherzogliche Hof- und Landesbibliothek (Allgemeines), 1911-1948
- 450 Nr. 827: Personalakte Friedrich Lautenschlager als Angestellter des Generallandesarchivs 1946–1948
- Enthalten in 465 c Nr. 2237: Personenakte der NSDAP-Gauleitung, politische Beurteilung von Friedrich Lautenschlager 1935–1936
- 465 h Nr. 14708: Spruchkammerverfahren Friedrich Lautenschlager
- 573-2 Nr. 6–10 und 31–33 sowie 44 und 50: Verwaltungsakten der Badischen Landesbibliothek vor allem aus den Jahren 1942ff. (Bergungslisten, Feststellung des Sachschadens, Wiederaufbau, Luftschutz- und Bergungsmaßnahmen, Einziehung von nationalsozialistischer Literatur, Raumbedarf, Bibliotheksbetrieb etc.)
Literatur über Friedrich Lautenschlager
- Leicht, Friedrich: Dr. Friedrich Lautenschlager (1890–1955). Bibliograph der badischen Geschichte aus Niefern. In: Der Enzkreis 9 (2001), S. 285–290.
- Bernhardt, Ursula: Friedrich Lautenschlager 1890–1955. In: BLB-Magazin 2 (1996) 3, S. 1–3.
- Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925–1980 / Alexandra Habermann; Rainer Klemmt; Frauke Siefkes. Frankfurt a. M. 1985, S. 73.
- Weber, Ulrich: Lautenschlager, Friedrich. In: Badische Biographien. N.F. 1 (1982), S. 199.
- Brummer, Karl: Friedrich Lautenschlager. In: Historisches Jahrbuch 78 (1959), S. 524–526.
- Weber, Ulrich: Nachruf Friedrich Lautenschlager 1890–1955. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 107 (1959), S. 511–518 mit Bibliographie der Schriften Lautenschlagers.
- Strobel, Engelbert: Friedrich Lautenschlager zum Gedächtnis. In: Badische Heimat 35 (1955), S. 52–54.
Zum Pflichtexemplargesetz für Baden 1936
- Hiller von Gaertringen, Julia: Die meiste Zeit eine Schwachstelle. Seit 250 Jahren gibt es ein badisches Pflichtexemplarrecht. In: 250 Jahre ÖFFENTLICH. Die Badische Landesbibliothek 1771–2021 / herausgegeben von Julia Freifrau Hiller von Gaertringen in Verbindung mit Veit Probst, Annika Stello und Ludger Syré. Bretten 2021, S. 148–191. - Zum archivierten Objekt
Zu NS-Raubgut in der Badischen Landesbibliothek
- Vogl, Ulrike; Hiller von Gaertringen, Julia: NS-Raubgut-Forschung an der Badischen Landesbibliothek. Eine Bilanz. In: Bibliotheksdienst 54 (2020), 10–11, S. 781–792. - Zum Voltext
Zur Badischen Landesbibliothek im Zweiten Weltkrieg
- Syré, Ludger: "Ein wirres Gebirge von Kisten". Die Auslagerungen der Badischen Landesbibliothek während des Zweiten Weltkriegs. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 169 (2021), S. 519–552.
- Syré, Ludger: Die Badische Landesbibliothek im Zweiten Weltkrieg – Untergang und Neuanfang. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 154 (2006), S. 493–515.
- Syré, Ludger: Untergang im Phosphorfeuer der Fliegerbomben. Die Zerstörung der Badischen Landesbibliothek im Zweiten Weltkrieg. In: BuB: Forum Bibliothek und Information 57 (2005) 9, S. 621–628. - Zum Preprint
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