Aufstrebender Orgelvirtuose und unbeachteter Komponist

Regers Vorgeschichte

Max Reger sechsjährig, Foto F. Grainer, Reichenhall. Retuschierte frühe Reproduktion mit Widmungsvermerk Elsa Regers an Anna Erler-Schnaudt 1917

Max Regers Vater Josef kam aus kleinen Verhältnissen, hatte es aber wie seine Brüder zum Beruf des Volksschullehrers gebracht; Regers Mutter Philomena (Mina) stammte aus einer Gutsbesitzerfamilie, deren Wohlstand während ihrer Kindheit geschmolzen war. Als einziger überlebender Sohn – drei jüngere Brüder starben als Säuglinge – sollte Max gleichfalls Lehrer werden – höhere Ambitionen konnte sich sein Vater nicht vorstellen. Die Lehrerausbildung führte damals schon mit 18 Jahren zum Abschluss und sicherte ein bescheidenes Einkommen. Da auch musikalische Fächer gelehrt wurden, für die der Jüngling große Veranlagung zeigte, fügte er sich zunächst in die väterliche Bestimmung.

Max Reger als Lehrer am Fuchs-Konservatorium in Wiesbaden 1891/92, Karikatur (verschollen), überliefert in einem Katalog des Musikantiquariats Hans Schneider, Tutzing, 1973

Dass er sich nach seinem Bayreuth-Erlebnis eine Ausbildung zum Musiker ertrotzen konnte, war nicht zuletzt der Fürsprache einiger Verwandter und Freunde zu verdanken, nicht zuletzt Adalbert Lindners, eines früheren Mitschülers seines Vaters und späteren Lehrers des jungen Reger. Von Frühjahr 1890 bis Februar 1893 studierte er bei Hugo Riemann zunächst in Sondershausen, dann in Wiesbaden Klavier und Theorie und verdiente zugleich sein Studium durch Klavier- und Orgelstunden.

Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV)
LS: Tz 6597,15 (100A 51114)

Die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit Regers frühen Jahren versammelt erstmals sämtliche bekannten Briefe und Dokumente, außerdem Erinnerungen, Konzertkritiken, Zeitungsartikel etc. und erkundet, wie aus dem aufgeweckten Lehrersohn der eigenwillige Musiker wurde, der wenig Rücksicht auf Interpreten, Publikum und Kritik nahm und auch heute noch kontrovers diskutiert wird.

 

Lebenslauf von Max Reger

  • 1873    geboren am 19. März in Brand (Oberpfalz) als Sohn des Lehrers Josef Reger und seiner Frau Philomena
  • 1874    Versetzung des Vaters nach Weiden (Oberpfalz)
  • 1879    Erster Klavierunterricht bei der Mutter
  • 1884    Klavier- und Orgelunterricht bei Adalbert Lindner, Lehrer und Organist in Weiden
  • 1888    Besuch der Bayreuther Festspiele (Parsifal, Die Meistersinger von Nürnberg); Entschluss, Komponist zu werden
  • 1890    Reger wird Schüler Hugo Riemanns am Konservatorium in Sondershausen, ab Herbst in Wiesbaden
  • 1893    Studienabschluss. Lehrer privater Klavierschüler und am Konservatorium. Selbststudium, insbesondere durch Bearbeitungen von Werken J. S. Bachs. Veröffentlichung erster Werke, diverse Auftragsarbeiten zum Gelderwerb
  • 1895    Orgelsuite e-Moll op. 16; eine Sinfonie und ein Klavierkonzert werden vom Verlag nicht zur Veröffentlichung angenommen
  • 1896    Korrespondenz mit Ferruccio Busoni und Richard Strauss. Ab Oktober einjährig-freiwillige Militärzeit, deren selbst zu tragende Kosten zunehmend Schulden verursachen
  • 1898    Im Frühjahr persönliche Bekanntschaft mit Karl Straube. Nach körperlichem und seelischem Zusammenbruch Rückkehr ins Elternhaus. Die Isolation in Weiden fördert Regers künstlerische Produktivität. Wachsender künstlerischer und finanzieller Erfolg
  • 1901    Reger übersiedelt mit seiner Familie nach München, findet dort bald Anerkennung als Pianist; Beginn einer umfangreichen Konzerttätigkeit
  • 1902    Heirat mit Elsa von Bercken, geb. von Bagenski; Adoption der Töchter Christa und Lotti 1908 bzw. 1909
  • 1905–06    Lehrtätigkeit an der Akademie der Tonkunst München
  • 1907    Berufung zum Universitätsmusikdirektor und Professor am Konservatorium in Leipzig
  • 1911    Berufung zum Hofkapellmeister Herzog Georgs II. von Sachsen-Meiningen
  • 1914    Nach Zusammenbruch Erholung im Sanatorium in Meran und Aufgabe der Stellung als Hofkapellmeister
  • 1915    Umzug in eine eigene Villa in Jena, Beethovenstraße 2
  • 1916    In der Nacht zum 11. Mai stirbt Reger in einem Leipziger Hotelzimmer an Herzversagen

Franz Nölken (1884–1918), Max Reger bei der Arbeit, 1913, Ölgemälde – Bi. 001 – erworben 1958

Der aus Hamburg stammende Franz Nölken, Mitglied der Dresdener Künstlervereinigung »Die Brücke« und Student an der Académie Matisse in Paris, lernte Reger im Sommerurlaub 1913 in Kolberg an der Ostsee kennen. In der Folge schuf er fünf Ölgemälde und mehrere Radierungen des Komponisten. Wenige Tage vor Kriegsende fiel er an der Westfront.

Susanne Popp, Max Reger. Werk statt Leben. Biographie, Wiesbaden 2015
LS: Tz 1679 (116 E 729)

Rechtzeitig zum Reger-Jahr 2016 erschien im Verlag Breitkopf & Härtel Susanne Popps grundlegende Reger-Biographie, schöpfend aus mehr als vierzigjähriger Befassung mit dem Komponisten und seiner Welt.

 

Überwindung einer ersten Krise 1895

Mit der Suite e-Moll, seinem ersten ambitionierten Orgelwerk, überwand Reger eine Schaffenskrise, von der Choralzitate im langsamen Satz zeugen. Sie entstand nach der Lektüre eines ausführlichen kritischen Aufsatzes von Straubes Lehrer Heinrich Reimann zur Entwicklung der gegenwärtigen Orgelsonate (erschienen 1894 in der Allgemeinen Musik-Zeitung). Die Uraufführung erfolgte durch Straube ein Jahr nach Drucklegung am 3. März 1897 in der Berliner Dreifaltigkeitskirche.

Suite e-Moll op. 16 für Orgel, Stichvorlage – Mus. Ms. 019 – erworben 2002
mit Widmung »Den Manen Joh. Seb. Bachs«, Schlusseintrag S. 40 »Finis | Reger | 23. July 1895. | Gott sei Dank«

Exemplare der Orgelsuite verbreitete Reger zu Promotionzwecken an Freunde und Bekannte, so auch an das Mitglied der städtischen Kapelle Wiesbaden (»Seinem lieben Freunde | Wilh.Sadony zur | freundlichen | Erinnerung an | Max Reger | (Februar 1896 | Wiesbaden)«).

Suite e-Moll op. 16 für Orgel, Erstdruck, Augener & Co., London, 1896. Exemplar mit Widmung für Wilhelm Sadony, Februar 1896 – Mus. DE 04 – erworben 1981

Das Jahr 1896 bedeutete einen Wendepunkt für Reger – im Februar lernte er bei einem Konzert der Frankfurter Museumsgesellschaft Ferruccio Busoni und Richard Strauss kennen und fühlte sich bei der anschließenden Feier mit den Künstlern erstmals unter gleichwertigen Musikerpersönlichkeiten wohl. Die Orgelsuite sandte er wenige Monate später an Busoni, Strauss und Johannes Brahms. Dieser zeigte sich angesichts der »allzu kühne[n] Widmung« (Den Manen Bachs) »erschreckt«. Es ist unklar, ob sich Reger und Brahms im Sommer 1896 kennengelernt haben. Seinem Weidener Freund Adalbert Lindner berichtete Reger: »Soeben sendet mir Johannes Brahms sein Bild mit der Bitte, ihm meines zu schicken!« (Postkarte und Brief sind verschollen). Die Fotografie Brahms’ hielt Reger zu Lebzeiten hoch in Ehren. Heute sind die beiden ausgetauschten Fotos verschollen.

Johannes Brahms, Fotografie von Maria Fellinger, Nachlass Max Reger, verschollen, Reproduktion

Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt Max Reger in jungen Jahren mit Brille auf der Nase nach links blickend. Darunter steht handschriftlich die Widmung.

Max Reger, Fotografie, Wiesbaden 1896, Exemplar mit Widmung an den Bruder eines ehemaligen Mitstudenten (»Brahms-Aufnahme. | Seinem besten Freunde Karl Gemünd | zur freundlichen Erinnerung an | Max Reger | Wiesbaden | Juni 1896.«). Verschollen. Abdruck auf dem Titelblatt der Mitteilungen der Max Reger-Gesellschaft 12. Heft (Juli 1934).

Diese beiden Gesangbücher waren für die Entstehung von Regers frühen choralgebundenen Orgelwerken von wesentlicher Bedeutung.

Gesangbuch für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, Nürnberg 1897
Evangelisches Gesangbuch für Rheinland und Westfalen, Dortmund 1897

Im langsamen Satz der Orgelsuite verarbeitet Reger protestantische Choräle – »Aus tiefer Not schrei ich zu Dir«, »Es ist das Heil uns kommen her« und »Wenn ich einmal soll scheiden«. In der von Katholiken und Protestanten genutzten Weidener Simultankirche St. Michael hatte der in streng katholischem Elternhaus aufgewachsene »Aushilfsorganist« Reger bereits das evangelische Gesangbuch kennenlernen können. Nach Abschluss seines Studiums im Frühjahr 1893 hatte die intensive Auseinandersetzung mit der Musik Bachs zu einem vertieften Verständnis der Textaussage geführt.

Suite e-Moll op. 16 für Orgel
II. Adagio assai
Roberto Marini an der Link-Orgel der Evangelischen Stadtkirche Giengen an der Brenz (2011) | Anhören

 

Zur Situation Regers bei der Uraufführung

Stadtplan von Wiesbaden aus Meyers Konversations-Lexikon, 5. Auflage Leipzig u. Wien 1907

Zur Erläuterung

Regers Wohnung Sedanstraße 6 (2. Etage rechts)    C 4
Ringkirche    C 5
Infanterie-Kaserne    CD 5
Konservatorium, Rheinstraße 54    D 5
Marktkirche und Rathaus    E 4

Auguste von Bagenski mit ihren Kindern Elsa, Ernst und Hans sowie der Pflegetochter Bertha von Seckendorff, Fotografie E. Rheinstaedter, Wiesbaden, um 1887 – erworben 1999 aus dem Nachlass Elsa Regers

Zur Zeit der Uraufführung der Suite lernte Reger als Konservatoriums- und Privatlehrer im Klavierspiel seine zukünftige Frau Elsa von Bercken (geb. von Bagenski) und deren Familie kennen. Der Unterricht höherer Töchter war nicht immer eine Freude; dem Ehemann einer Schülerin schrieb er nach Beendigung des Dienstverhältnisses: »Daß Sie aus meinen Äußerungen geschlossen haben, daß mir das Stundengeben ein Gräuel ist, da haben Sie vollkommen recht; und werde ich es ja so wie so den Wiesbadenern nicht mehr lange schwer machen, daß sie meine Gegenwart noch ertragen müssen, da ich nach Schluß meines [Militär-]Jahres mich erstens mal 1/2 Jahr ausruhe u. sodann ins Ausland gehe. Von der Weltcurstadt W. habe ich ja überhaupt sehr wenig zu erwarten in bezug auf Förderung meiner künstlerischen Interessen« (Brief, 31. Januar 1897).

Wiesbaden, Die Rheinstraße in Wiesbaden, im Hintergrund die Ringkirche, zeitgenössische Ansichtskarte (vergrößerte Reproduktion). Linker Hand hinter den Baumreihen das Konservatorium.

Seit Oktober 1896 absolvierte Reger sein Einjährig-freiwilliges Militärjahr, mit dem ein mehrjähriger Militärdienst vermieden werden konnte. Dieses von Künstlern gern genutzte Privileg hatte den Nachteil, dass der Infanterist alle Ausgaben – Ausrüstung, Unterbringung und Verpflegung – selbst bestreiten musste. Da Reger von seinem Vater keine Unterstützung erwarten konnte, hatte er zur Vorfinanzierung mehrere größere Werke komponiert, die aber von seinem Verleger Augener allesamt abgelehnt worden waren. Diese fatale Situation spiegelt Regers Brief an August Doering vom 19. Dezember 1896 treffend: »Ich bin aus den ärmlichsten Verhältnissen hervorgegangen u muß mir jetzt noch mein Einjährig-Freiwilligenjahr selbst bezahlen; u. da heißt es abends nach dem Dienst arbeiten. Kein Mensch gibt mir einen Pfennig; ich stehe allein da; es kümmert sich niemand um mich [...]. Seit 5 Wochen habe ich noch nicht einmal ordentlich zu Mittag gegessen, da mir die Mittel dazu fehlen, u so schleppe ich mich denn weiter von einem Tage zum anderen.« Elsa Reger schreibt in ihren Erinnerungen: »er war eine Erscheinung, bei der mein soldatisches Blut in mir schäumte. Heute lächle ich, aber damals bedeutete es für mich eine Pein, wenn der junge Einjährige mich auf der Straße entdeckte und auf mich zukam.«

Militärpass Max Reger, Einjährig-freiwilliger Füsilier-Infanterist, 1896 – D. Ms. 81 – erworben 1999

Wiesbaden, Die Infanteriekaserne in der Schwalbacher Straße, zeitgenössische Fotografie (Reproduktion)

Brief Regers an Max Ulrich, 27. März 1897 – Ep. Ms. 457 – erworben 1989 – S. 2–3

Offen beschreibt Reger seinem Vetter seine Militärzeit: »Aber wenn dies öde, traurige Jahr herum ist, so hoffe ich zuversichtlich mal in die Stadt München zu kommen. So aber [...] [Beginn S. 2] könnte man ja zu melancholisch werden. Immer u. immer das ewige Exerzieren; es hängt uns allen zum Halse heraus. O du heiliger Gott, kommt man um 1 Uhr vom Exerzieren in die Kaserne zurück, so ist gleich Schießappell u. dann geht’s ohne Mittagessen auf die Schießstände u. da ist man bis 6 Uhr abends, marschiert zurück, hat nachher noch 1 Stunde Gewehrreinigen, kommt endlich um 9 Uhr nach Hause und ist müde wie ein Sackträger. Und so geht’s nun fast jeden Tag. Nicht einmal Sonnabends nachmittags hat man frei! Nein da haben die schlechten Schützen nochmals 1 Stunde extra. Natürlich bin ich ja auch dabei u. so muß ich denn heute noch eine „schöne“ Stunde [private Klavier-Unterrichtsstunde] mitmachen. Wenn sie nur schon vorbei wäre!«

In einem Brief an Adalbert Lindner können wir dagegen eine geschönte Darstellung lesen: »Nun über die Hälfte hätten wir schon durchgebissen beim Kommiß; im Anfange war’s schwer, sehr schwer; aber jetzt bin ich’s schon gewöhnt. Es wird viel, ungeheuer viel von uns verlangt; aber für den Körper ist es geradezu grandios. So 6 Stunden täglich nur in der frischen Luft draußen herumzumarschieren, zu exerzieren, da gibt’s einen Hunger u. Durst, der göttlich ist. Mein armer Bierbauch ist verschwunden; dafür bin ich aber zähe geworden; jetzt ist der Dienst ja schon interessanter; ist auch der Tornister schwer, so schleppt man ihn doch; zumal wenn man einen so ausgezeichneten Hauptmann hat, der Alles mit guten Worten macht.«

 

Straube als Reger-Interpret in Berlin 1897

Kaiser Wilhelm II. von Preußen, Fotografie von Hofphotograph J. C. Schaarwächter, Berlin 1888 – Leihgabe Jürgen Schaarwächter

Das deutsche Kaiserreich, dem das Königreich Bayern 1871 eingegliedert worden war, ermöglichte zwar stärkere Kommunikation zwischen den einzelnen früheren Kleinstaaten, doch blieb Reger weiterhin auf die einzelnen Herzogtümer und deren Musikpflege konzentriert. Der dekadente preußische Hof und sein konservatives Musikverständnis waren nicht nur Reger, sondern auch anderen Musikern, die nicht im preußischen Hoheitsgebiet tätig waren, suspekt.

Reger äußerte er sich despektierlich über die »Herren Rudorff, Gernsheim, Bruch, welche [...] ja alle Musik in das Prokrustesbett akademischer Vortragsart pressen wollen!« (Brief an Henri Hinrichsen vom Verlag C. F. Peters vom 9. Juni 1907). Und Philipp Wolfrum gegenüber fasste er den Konservativismus des Berliner Kunstverständnisses (gleich ob an den dortigen Konservatorien oder der Königlichen Akademie der Künste) folgendermaßen zusammen: »Es ist ja zum Kranklachen: Leute wie Scharwenka, Moszkowski, Rüfer etc etc; diese Herren mit Bruch an der Spitze – ist doch „klassisch“! Ich habe für diese Herren den Ausdruck: „Genossenschaft der Zurückgebliebenen“ erfunden!« (Brief vom 21. September 1909).

Stadtplan von Berlin aus Meyers Konversations-Lexikon, 6. Auflage Leipzig u. Wien 1909.

Zur Erläuterung

Straubes Wohnung Wilhelmstraße 29 (parterre)    C 5
Ministerien in der Wilhelmstraße     C 4
Abgeordnetenhaus    C 5
Philharmonie    B 5
Dreifaltigkeitskirche    C 4

Die ev. Dreifaltigkeitskirche, Berlin, zeitgenössische Ansichtskarte (vergrößerte Reproduktion)

Die 1739 vollendete Dreifaltigkeitskirche an der Zusammenführung von Mauer- und Kanonierstraße war eine den Lutheranern und den Reformierten Gemeinden dienende Simultankirche. Sie erhielt 1895 eine neue Wilhelm-Sauer-Orgel hinter historischem Gehäuse. Heinrich Reimann, dem Straube seit 1896 an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche assistierte, lenkte dessen Interesse auf Regers Orgelsuite, die für den jungen Organisten fraglos einer Herausforderung darstellte, ihm aber auch zahlreiche Möglichkeiten eröffnen sollte. Die Uraufführung erfolgte am 3. März 1897, in der Mitte von Regers Militärjahr. Die Presse reagierte ablehnend, Max Loewengardt schrieb in der Berliner Börsen-Zeitung: „Max Reger schreibt in seiner Suite moderne Orchestermusik für Orgel [...]. Es läßt sich kaum etwas weniger Orgelmäßiges denken, als diese Suite [...]. Eine unerquickliche Musik, mehr unerquicklich als Musik.“ An Adalbert Lindner in Weiden berichtete Reger am 11. April 1897, ein Kritiker schreibe, »ich wäre der Socialdemokrat unter den jetzigen Komponisten; denn was ich wollte, wäre nur der Umsturz aller musikalischen Verhältnisse. [...] Wie unendlich komisch u. zu gleicher Zeit auch traurig solche unglaublich dumme Ergüsse stimmen müßen, kannst Dir wohl denken. Ich, der glühendste Verehrer J. S. Bach’s, Beethoven’s u. Brahms’ sollte also den Umsturz predigen.«

Leipziger Straße, Berlin, zeitgenössische Ansichtskarte (vergrößerte Reproduktion)

Die Leipziger Straße, an der Ladengeschäft und Büros des Verlagshauses Ed. Bote & G. Bock lagen; sie kreuzt die Wilhelmstraße und führt über den Leipziger Platz zum Potsdamer Platz.

Karl Straube wuchs in Berlin in der Wilhelmstraße 29 auf, nahe dem Fürstenberg-Palais und den damaligen Regierungseinrichtungen sowie des Anhalter Bahnhofs; in Nummer 39 hatte Adolph von Menzel gewohnt; die Umgegend war also geprägt von Kultiviertheit und hohem sozialen Anspruch. Der Vater Johannes Straube war als Organist und Harmoniumbauer auch für den kaiserlichen Hof tätig, die Mutter entstammte englischem Landadel.

Während Reger in Weiden mit kleinstädtischen Verhältnissen zu leben hatte, musste Straube nicht für seine Musikerkarriere kämpfen. Dank seinem Orgellehrer Heinrich Reimann konnte er bald an renommierten Orgeln auch ungebräuchliches Repertoire erkunden. Ende Mai 1897 bekam er seine erste feste Stelle als Organist der Willibrordikirche in Wesel in der niederrheinischen Provinz, wo er sich an einer hervorragenden neuen Orgel Repertoire, Routine und Renommee erarbeiten konnte.

 

Erste persönliche Begegnung in Frankfurt

Paulskirche Frankfurt a. M., Kircheninneres mit Orgel, Fotografie Ludwig Klement, zeitgenössische Ansichtskarte

Paulskirche und Einheitsdenkmal, Frankfurt a. M., Fotografie Ludwig Klement, zeitgenössische Ansichtskarte

Das Café Bauer, Frankfurt a. M., zeitgenössische Ansichtskarte, gelaufen 1897

Die erste persönliche Begegnung zwischen Straube und Reger erfolgte erst Ende März 1898. Gesundheitlich schwer angeschlagen, besuchte Reger die ersten zwei der drei Konzerte Straubes in der Frankfurter Paulskirche am 29. März und 1. April. Als Abschluss des zweiten Konzertes spielte Straube Regers Suite. Der Organist hat später dem Biographen Guido Bagier davon berichtet, »wie sie beide nach dem ersten Konzert beim Glase Pilsner zusammen saßen, wie die nächtliche Atmosphäre des Café Bauer verschwand vor der Erregtheit des Gesprächs, wie bereits nach einer halben Stunde das brüderliche „Du“ diese Freundschaft für das ganze Leben besiegelte.« Zwei im Konzert vorgetragene Arien von Carl Philipp Emmanuel Bach und Georg Friedrich Händel inspirierten Reger zu seinen ersten orgelbegleiteten Gesängen Passionslied und Doch du ließest ihn im Grabe nicht op. 19, in die er die Choräle »Es ist das Heil uns kommen her«, »Wenn ich einmal soll scheiden« und »Herzliebster Jesu« verwob und somit erneut die zentralen Themen Tod und Erlösung, Schuld und Heil, Verzweiflung und Hoffnung aufgriff.

Regers schlechte gesundheitliche und finanzielle Lage erlaubte ihm nicht mehr den Besuch des dritten Konzerts am 5. April. Nachdem der Verlag Augener mehrere seiner Originalwerke und Bearbeitungen abgelehnt hatte und Bewerbungen um Kapellmeisterposten in Bonn und Heidelberg gescheitert waren, spitzte sich seine durch die Kosten des Militärjahrs verschuldete prekäre Lage zu. Seine Familie hatte kein Verständnis für die Nöte einer freiberuflichen Komponistenexistenz, die allein durch Fleiß nicht zu überwinden waren. Im Juni 1898 war die Rückkehr ins Elternhaus in Weiden unausweichlich, und Reger redete sich den Abschied von Wiesbaden schön: »„Auf die Dauer“ müßte man ja in W., dem „Eldorado der Talentlosigkeit“, versauern.« (Brief an Richard Linnemann, den Herausgeber des Musikalischen Wochenblatts, vom 14. Juni 1898). In Weiden betrieb Reger nicht nur einen konsequenten Schuldenabbau, er unterstützte auch seine Eltern und seine Schwester regelmäßig.

Präparandenschule Weiden, Ansichtskarte aus einem Sammelleporello aus dem Nachlass Elsa Regers, vergrößerte Reproduktion
Hinweis »Die alte Präparandenschule, die Reger v. 1886-89 besuchte. | In diesem Haus schrieb Reger fast alle Werke bis op 65.«

Karl Straube, 1899, Fotografie, Reproduktion

Es ist nicht bekannt, ob Straube in der ersten Hälfte der 1890er-Jahre ein Einjährig-freiwilliges Militärjahr ableistete, das er sich mit seinem finanziellen Hintergrund leichter hätte leisten können als Reger. Während Reger 1914 für den Kriegsdienst als »total untauglich« ausgemustert wurde, wurde Straube zum 1. Juni 1917 eingezogen, doch diente er im Feldartillerie-Regiment 77 nur bis 13. Juli.

Johann Sebastian Bach, Ausgewählte Choralvorspiele, bearb. für Klavier zu zwei Händen von Max Reger Bach-B4, Erstdruck, Verlag Jos. Aibl, München September 1900) – S. 2–3

Zu den in der Wiesbadener Endzeit abgelehnten Werken gehörten auch die im Frühjahr 1898 transkribierten 13 Choralvorspiele Bachs für Klavier solo, die Reger dem Verlag C. F. W. Siegel für bescheidene 60 bis 80 Mark angeboten hatte. Sie sollten erst zwei Jahre später im Münchner Verlag Jos. Aibl erscheinen. Im ausführlichen Vorwort spricht er von »symphonischen Dichtungen en miniature« und versucht den Textausdeuter Bach einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Der Reger-Pudel Melos, Plüschtier der Firma Steiff, limitierte Auflage zur Reger-Biennale Giengen an der Brenz 2006

Im August 1904 bekam Reger einen schwarzen Pudel geschenkt, der den Namen Melos erhielt und dem Reger bedeutende Intelligenz attestierte. Schon zu dem Vorgänger in Weidener Zeit hatte Reger ein verständnissinniges Verhältnis: an den Münchner Freund Richard Braungart schrieb er am 30. Dezember 1900 aus Weiden: »die Bevölkerung ist im allgemeinen so stupid, daß man am liebsten allein bleibt; das Beamtenthum hier von einem grandiosen „übermenschlichen“ Hochmut erfüllt bis zum Platzen, so daß man auch sogar froh ist, mit solchen Bonzen nichts zu thun zu haben. Und dabei borniert, denkfaul, daß es nur so zum Himmel schreit! Von einem künstlerischen Verständnis nicht eine Spur; ich spiele meinem Hunde viel lieber meine Sachen vor; der schaut mich nachher doch nur dumm an; allein einer hiesigen „Koryphäe“ etwas vorspielen, ist ein zweifelhaftes Vergnügen; die schaut einen dumm an u. schwätzt nachher noch viel dümmer daher, was mein Hund nicht thut!“«

 

Lebenslauf von Karl Straube

  • 1873     geboren am 6. Januar in Berlin. Jüngster Sohn von Johannes Straube, Organist und Harmoniumbauer, und Sarah Palmer aus England
  • Orgelunterricht zunächst beim Vater, später bei Otto Dienel, Organist der Berliner Marienkirche , und bei Heinrich Reimann, Organist an der Kaiser-Friedrich-Wilhelm-Gedächtniskirche
  • Studium der Musiktheorie bei Albert Becker an der Akademie der Künste
  • 1895     Straube wird ständiger Vertreter Reimanns an der Gedächtniskirche
  • 1897     Uraufführung von Regers Orgelsuite e-Moll op. 16 in Berlin
  • 1898     Berufung zum Organisten an der Willibrordi-Kirche in Wesel. Beginn einer glänzenden Virtuosenlaufbahn, besonders mit Werken Regers, der ihm zahlreiche Uraufführungen in Wesel überträgt
  • 1898     Erste persönliche Begegnung mit Max Reger anlässlich einer Aufführung der Orgelsuite in Frankfurt am Main
  • 1903     Straube wird Thomasorganist in Leipzig und Chordirigent des Leipziger Bach-Vereins
  • 1903     Heirat mit  Hertha Johanna Küchel (1876–1974); Tochter Elisabeth (1904–1924)
  • 1904     Leiter des Bach-Festes der Neuen Bachgesellschaft. Straube wird das Fest insgesamt sechs Mal leiten, zuletzt 1923
  • 1907     Orgellehrer am Königlichen Konservatorium der Musik in Leipzig, 1908 Professor
  • 1908     Erweiterung der Sauer-Orgel der Thomaskirche
  • 1918     Leipziger Thomaskantor als Nachfolger von Gustav Schreck, der elfte seit J.S. Bach und der erste, der kein Komponist ist; Straube hat das Amt bis 1939 inne
  • 1919     Gründung des Kirchenmusikalische Instituts der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen am Leipziger Landeskonservatorium
  • 1931     Straube dirigiert zwischen 1931 und 1937 fast alle Bachkantaten mit dem Thomaschor und dem Gewandhausorchester
  • 1933 (1926?) Straube wird Mitglied bei der NSDAP
  • 1933     Unterzeichnung der Erklärung Kirchenmusik im dritten Reich
  • 1933     Straube gibt die Leitung des Bach-Vereins ab
  • 1937     Überführung des Thomanerchors in die Hitler-Jugend
  • 1949     Letztes Jahr als Orgellehrer am Institut für Kirchenmusik
  • 1950     Straube stirbt am 27. April in Leipzig

Christopher Anderson, Karl Straube (1873–1950). Germany’s Master Organist in Turbulent Times, Rochester (New York) u. Woodbridge 2022
123 A 3144

Rechtzeitig zum Straube-Jahr 2023 erschien die erste umfassende, bislang weite Quellenbestände erstmals berücksichtigende Straube-Biographie, Frucht jahrzehntelanger Forschung in diesem Bereich.

Christopher Anderson, Max Reger and Karl Straube. Perspectives on an Organ Performing Tradition, Aldershot/Burlington (Vermont) 2003
103A 11112

Seit seiner Doktorarbeit an der Duke University, die 1999 abgeschlossen und 2003 in Druckform veröffentlicht wurde, hat sich Christopher Anderson als Forscher wie als Musiker mit der Reger-Straube-Aufführungstradition auseinandergesetzt.

Max Reger. Briefe an Karl Straube, hrsg. von Susanne Popp, Bonn 1986 (Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 10)
86A9700

Regers Korrespondenz mit Karl Straube hat sich nicht erhalten – und auch von Regers Briefen an Straube hat sich nur ein Teilbestand in Abschriften aus dem Nachlass Straubes erhalten. Dieser wichtige Quellenbestand war wesentlicher Auslöser, die Künstlerfreundschaft zwischen Reger und Straube dokumentenbasiert neu zu erkunden.

William Straube (1871–1954), Max Reger, Pastellgemälde, 1901/02, verschollen, Schwarzweiß-Reproduktion

William Straube war Karl Straubes älterer Bruder. Nach Ausbildungen zum Dekorationsmaler und Zeichenlehrer begann er ein Studium der freien Malerei in Berlin, das er aber nach kurzer Zeit abbrach. 1898 übersiedelte er nach Koblenz, wo er 20 Jahre lang als Zeichenlehrer und ab 1908 auch als freischaffender Künstler arbeitete. 1908–11 verbrachte er Studienaufenthalte an der Pariser Académie von Henri Matisse, an der er möglicherweise auch Franz Nölken kennenlernte. Ob das Gemälde im Februar 1902 anlässlich der Uraufführung von Regers Symphonischer Phantasie und Fuge op. 57 in Berlin geschaffen wurde, die für Reger wie für Straube von nachhaltiger Bedeutung war, ist vorstellbar.

 

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