Marie Baum und die soziale Fürsorge
Katharina Hörz (Gastautorin) und Michael Fischer 16.5.2024 14.35 Uhr
DOI: https://doi.org/10.58019/16k8-x143
Vor 150 Jahren, am 23. März 1874, wurde die engagierte Sozialpolitikerin, Chemikerin, Sozialwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Maria Johanna Baum im preußischen Danzig geboren. Marie Baum war eine Wegbereiterin der modernen Sozialarbeit. Ihr Wirken ist auf vielfache Weise mit Karlsruhe und Baden verknüpft, so dass wichtige Stationen ihres Lebens gut in den Beständen und den Digitalen Sammlungen der Badischen Landesbibliothek (BLB) nachvollzogen werden können.
Marie Baum (1874–1964), Aufnahmezeitpunkt ca. 1952. Universitätsarchiv Heidelberg, BA Pos I 138
Sie wuchs als drittes von insgesamt sechs Kindern ihrer Eltern Wilhelm Georg Baum (1836–1896) und Fanny Auguste Florentine Baum (1845–1912) auf. Von ihren Eltern wurde ihr sowohl das Interesse an Mathematik und naturwissenschaftlichen Fragestellungen vermittelt als auch soziales Engagement vorgelebt. So praktizierte ihr Vater neben seiner Tätigkeit als Leiter des städtischen Krankenhauses in Danzig kostenfrei als Privatarzt. Ihre Mutter war die Tochter des Göttinger Mathematikers Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805–1859).
Um als Frau eine höhere Schule besuchen zu können, zog Marie Baum nach Zürich und studierte dort nach erfolgreich abgelegtem Abitur ab 1893 Chemie am Eidgenössischen Polytechnikum. An deutschen Universitäten wurde Frauen erst ab 1900 der volle Zugang zum Universitätsstudium gewährt und zwar in Heidelberg und Freiburg – das Großherzogtum Baden kann hier folglich als Musterland gelten. Ihr Diplom erhielt sie 1897, zwei Jahre später wurde sie promoviert.
Ab 1899 war sie als Chemikerin in der Patentabteilung der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation (AGFA) in Berlin tätig. Die dortigen Eindrücke der herrschenden Arbeitsbedingungen veranlassten sie dazu, ihr weiteres berufliches Wirken „in den Dienst der sozialen Fürsorge“ zu stellen, so beschreibt es Katja Förster 2014 im Karlsruher Stadtlexikon. Auf Vermittlung der Sozialpolitikerin Alice Salomon (1872–1948) wurde Marie Baum 1902 in Karlsruhe zur Fabrikinspektorin ernannt und war infolgedessen dafür zuständig, die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen von den ca. 55.000 weiblichen und ca. 17.000 jugendlichen Beschäftigten in den badischen Betrieben zu überwachen. Seit 1904 war sie zudem noch für die Kinder in der Hausindustrie zuständig. Ihre Erfahrungen während dieser Tätigkeit publizierte sie 1906 unter dem Titel Drei Klassen von Lohnarbeiterinnen in Industrie und Handel der Stadt Karlsruhe.
Marie Baum: Drei Klassen von Lohnarbeiterinnen in Industrie und Handel der Stadt Karlsruhe. Karlsruhe: Braun 1906, Titelseite. – zum Digitalisat
Marie Baums Wirken war geprägt von ihrem starken Gerechtigkeitssinn und ihrem Mitgefühl gegenüber menschlichem Elend. Ihr Fokus lag dabei auf der Untersuchung der sozialen Folgen der industriellen Revolution für die Kinder. Dabei stellte sie immer wieder den Zusammenhang von fehlenden Fürsorgeinstitutionen und der in Deutschland vergleichsweise hohen Kindersterblichkeit her. Sie wurde zur Expertin auf diesem Gebiet und bald auch zu einer gefragten Rednerin: Auf der 25. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit in Mannheim 1905 sprach Marie Baum als Vertreterin des „Fraueninteresses“ zur „Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit“.
Ausgabe der Karlsruher Zeitung vom 23. September 1905, Nr. 261, Titelseite. – zum Digitalisat
Im Anschluss an ihre Tätigkeit als Fabrikinspektorin in Baden wirkte Marie Baum im Auftrag der Provinzialregierung von 1907 bis 1916 in Düsseldorf als Geschäftsführerin des Vereins für Säuglingsfürsorge. In dieser Funktion war sie maßgeblich mit der Konzeptentwicklung für eine konsequente Familienfürsorge beschäftigt. 1916 übernahm sie zusammen mit der deutschen Frauenrechtlerin, Politikerin und Schriftstellerin Gertrud Bäumer (1873–1954) die Leitung der Anstalt Soziale Frauenschule und sozialpädagogisches Institut in Hamburg. An dieser höheren Fachschule für Wohlfahrtspflege war sie als Dozentin in den Fächern Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik tätig und verantwortete zudem die praktische Ausbildung der Schülerinnen.
Als profilierte Sozialpolitikerin und dem politischen Kreis um den evangelischen Theologen und liberalen Politiker Friedrich Naumann (1860–1919) nahe stehend wurde Marie Baum 1919 über die Liste der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) als eine von 36 Frauen Abgeordnete in der Weimarer Nationalversammlung. Von den Härten des politischen Betriebs war sie allerdings wenig angetan und demzufolge nicht bereit, für ein weiteres Mandat zu kandidieren.
Von 1919 bis 1926 arbeitete Marie Baum als Referentin für die Wohlfahrtspflege beim badischen Arbeitsministerium in Karlsruhe. 1920 organisierte sie die Errichtung des „Musterkinderheim[s]“ der Weimarer Republik – das Kindererholungsheim Heuberg bei Stetten am kalten Markt, das schon im Jahre seiner Gründung tausend notleidende Kinder betreuen konnte (den Begriff „Musterkinderheim“ verwendet Wolfgang Bocks in seiner Biographie zu Marie Baum in den Baden-Württembergischen Biographien). Bis zu seiner Auflösung 1933 durch die Nationalsozialisten konnten dort insgesamt über 100.000 Kinder betreut werden.
Marie Baum war weiterhin eine gefragte Expertin und Rednerin – so sprach sie beispielsweise 1921 auf der Landesversammlung des Badischen Landesverbandes für Säuglings- und Kleinkinderfürsorge zum „Ausbau der Wohlfahrtspflege in Baden“ und machte sich für eine gezielte staatliche „Sozialpolitik, Armenpflege und soziale Fürsorge“ stark. Der sozialdemokratische Volksfreund kommentierte: „An die mit großem Beifall aufgenommenen Ausführungen schloß [sic] sich eine lebhafte Aussprache an“.
Ausgabe des Volksfreunds vom 8. Juni 1921, Nr. 130, S. 4. – zum Digitalisat
1928 erhielt Marie Baum eine Lehrbefugnis als Lehrbeauftragte an der Universität Heidelberg und unterrichtete dort die Fächer Wohlfahrtspflege und soziale Fürsorge. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde ihr die Lehrbefugnis allerdings aufgrund ihrer jüdischen Abstammung mütterlicherseits wieder entzogen. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ab 1946, konnte sie den Lehrauftrag an der Universität Heidelberg wiederaufnehmen.
1949, zu ihrem 75. Geburtstag, wurde Marie Baum als Ehrenbürgerin der Universität Heidelberg ausgezeichnet. In den Badischen Neuesten Nachrichten wurde zu diesem Anlass ihr bisheriges Leben und Schaffen in einem Artikel gewürdigt und resümiert: „Das Leben von Dr. Marie Baum […] ist in jahrzehntelanger sozialer Tätigkeit mit dem Lande Baden verbunden.“
Ausgabe der Badischen Neuesten Nachrichten vom 26. März 1949, Nr. 60, S. 5. – zum Digitalisat
Und anlässlich der Veröffentlichung ihrer Autobiographie Rückblick auf mein Leben bilanzierten die Badischen Neuesten Nachrichten in ihrer Ausgabe vom 31. März 1950 (Nr. 64): „So stellt sich uns ein Leben dar, das in voller Tätigkeit im Glauben und Vertrauen an eine höhere Zuversicht gelebt wird.“
1954 erhielt sie zu ihrem 80. Geburtstag das Bundesverdienstkreuz. Im hohen Alter von 90 Jahren starb sie am 8. August 1964 in Heidelberg. Die Stadt Karlsruhe benannte 2000 eine Straße nach ihr.
Verwendete Literatur
- Manfred Berger: Artikel „Baum, Marie“. In: social.net. Veröffentlicht am 20.09.2023.
- Wolfgang Bocks: Baum, Marie, Sozialpolitikerin, Verfolgte des NS-Regimes. In: Baden-Württembergische Biographien 1 (1994), S. 9–11.
- Eintrag in leo-bw
- Katja Förster: Artikel „Marie Baum“. In: Stadtlexikon Karlsruhe. Veröffentlicht 2014.
Literatur über Marie Baum im Katalog der BLB
Literatur von Marie Baum im Katalog der BLB