Künstlerischer Austausch

Orgelsonate fis-Moll op. 33, ‚Straube-Exemplar‘ – Mus. Ms. 006 – erworben 1958 aus dem Nachlass Karl Straubes – Einlage, unten der Vermerk Regers mit schwarzer Tinte: »Der Takt, wo die Änderung beginnt ist 1. Zeile 4. Takt durch // ++ etc kenntlich | gemacht.«

Das Manuskript der im Frühjahr 1899 entstandenen Orgelsonate zeigt viele Änderungen und Ergänzungen im Notentext; den Titel des III. Satzes änderte Reger mit Bleistift von »Ciacona« zu »Passacaglia«. Auf den Seiten 20–21 steht unten ein Vermerk von Regers Hand mit Bleistift: »Die beiden eingeklammerten Variationen habe ich total anders gemacht!«; die entsprechenden Änderungen finden sich auf diesem eingelegten Notenblatt.

Orgelsonate fis-Moll op. 33, für Straube hinzukomponierte Partie in der Passacaglia – Mus. Ms. 153 – erworben 1958 aus dem Nachlass Karl Straubes – S. 23d mit dem Vermerk in schwarzer Tinte: »wieder im | Gedruckten | bei Buchstabe B | weiterfahren!«

Die Sonate fasst durch die umfassende Quellensituation in besonderer Dichte den Austausch zwischen Reger und Straube zusammen. Nach Drucklegung komponierte Reger auf Anregung Straubes fünf weitere Variationen, die mit dem Kommentar versehen wurden: »Für Herrn Karl Straube hinzucomponiert. M. Reger.« Sie verweisen mit ihrer Paginierung 23a–d auf Seite 23 des Drucks, in dem vor der letzten Variation diese zusätzlichen Variationen eingeschoben werden können.

Sonate fis-Moll für Orgel op. 33
III. Passacaglia
Christopher Anderson an der Sauer-Orgel der evangelisch-lutherischen Stadtkirche Bad Salzungen (1999) | Anhören

Phantasie über den Choral »Wie schön leucht’t uns der Morgenstern« op. 40 Nr. 1, Teilabschrift Straube – Mus. As. 002 – erworben 1958 aus dem Nachlass Karl Straubes – unpag.

Am Ende der Phantasie zu über den Choral »Wie schön leucht’t uns der Morgenstern« op. 40 Nr. 1 schreibt Reger in seinem Manuskriptexemplar für Karl Straube (Mus. Ms. 009), datiert 29. November 1899 und diesmal klar vor der Stichvorlage entstanden: »Viel Vergnügen, lieber Karl! | Bitte, dieses Manuskript | zu behalten!« Auf Anregung Straubes komponierte Reger die dritte und vierte Strophe (»Geuß sehr tief in mein Herz hinein«) neu, da Straube auf die »äußerst nichtssagende dreistimmige Harmoniefolge« in der ihm übermittelten früheren Handschrift hingewiesen hatte. Dieser Abschnitt von gut 30 Takten weicht also in dem Manuskript für Straube und dem Erstdruck deutlich voneinander ab, und es ist der einzige Fall, in dem in Regers Choralphantasien eine auf Straube zurückgehende substanzielle Änderung nachweisbar ist. Straube legte diese Neukomposition in einer eigenhändigen Abschrift Regers Manuskript bei.

Karl Straube, Fotografie mit Widmung an Reger vom 30. Juni 1902. Veröffentlicht in der Zeitschrift Die Musik 15/5 (Februar 1923)

Die gegenseitige Wertschätzung zwischen Straube und Reger zeigt sich in zahlreichen Widmungen, sei es von Noteneditionen oder Notenhandschriften. Gerade der Austausch von Fotografien galt als besonderes Zeichen der Wertschätzung.

 

Weiden, Unteres Tor, Ansichtskarte aus einem Sammelleporello aus dem Nachlass Elsa Regers, Bildpostkarte, vergrößerte Reproduktion

Widmungen als Zeichen der Freundschaft

Das Max-Reger-Institut/Elsa-Reger-Stiftung besitzt die Originalmanuskripte sämtlicher Orgelwerke, die Reger neben den für den Verlag bestimmten Stichvorlagen für seinen Freund Straube schrieb. Sie tragen sichtbare Spuren der fruchtbaren künstlerischen Auseinandersetzung: die sieben Choralphantasien opp. 27, 30, 40 und 52, Phantasie und Fuge c-Moll op. 29, Orgelsonate fis-Moll op. 33 sowie Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46.

Phantasie über den Choral »Alle Menschen müssen sterben« op. 52 Nr. 1, ‚Straube-Exemplar‘ – Mus. Ms. 010 – erworben 1958 aus dem Nachlass Karl Straubes – S. 18 (»Recht inniges Vergnügen, lieber Carl!«)

Die drei Choralphantasien op. 52 entstanden in den Monaten September und Oktober 1900 innerhalb eines kurzen Zeitraums und wurden bereits im November zur Veröffentlichung angenommen. Die Drucklegung verzögerte sich wegen der Fülle der Werke, die Reger parallel zum Druck eingereicht hatte, bis Juni 1901. Wie die Manuskripte eindrucksvoll belegen, deuten Regers Choralphantasien den Text, den Reger unter die Noten schreibt, Wort für Wort aus.

Das genaue Uraufführungsdatum der Choralphantasie über »Alle Menschen müssen sterben« in der Weseler Willibrordikirche im Sommer 1901 ist nicht bekannt, auch das Datum der Manuskriptschenkung ist nicht überliefert. Der spitzzüngige Schlussvermerk Regers lautet: »Recht inniges Vergnügen, | lieber Carl! | Im Falle es beim Anhören dieses | „Verbrechens“ Todte geben sollte, | übernehme ich die Beerdigungskosten. | Besten Gruß | dein | alter Organiste | Max Reger«

Phantasie über den Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme« op. 52 Nr. 2, ‚Straube-Exemplar‘ – Mus. Ms. 011 – erworben 1958 aus dem Nachlass Karl Straubes – S. 1 mit dem Schenkungsvermerk »Dieses Originalexemplar ist Eigenthum | des Herrn Karl Straube«

Die Übersendung des Manuskripts der Phantasie über »Wachet auf, ruft uns die Stimme« an Straube erfolgte bereits am 22. Oktober 1900, als die Stichvorlage sorgfältig durchgesehen war. Die Widmung der Komposition in der Druckausgabe lautet: »Meinem Freunde Karl Straube in herzlichster Dankbarkeit.«, während die erste Seite des Notentextes durch die mehrfache Namensnennung und mehrfache Unterschrift in besonderer Weise die Freundschaft der beiden Musiker dokumentiert.

Phantasie über den Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme« für Orgel op. 52 Nr. 2
Phantasie (Ausschnitt)
Jean-Baptiste Dupont an der Schuke-Orgel des Magdeburger Doms (2012) | Anhören

Phantasie über den Choral »Halleluja! Gott zu loben, bleibe meine Seelenfreud’!« op. 52 Nr. 3, ‚Straube-Exemplar‘ – Mus. Ms. 012 – erworben 1958 aus dem Nachlass Karl Straubes – S. 18 (»Von hier an ins Reine geschrieben«)

Gleichfalls am 22. Oktober übersandte Reger Karl Straube das Manuskript seiner dritten Choralphantasie. Im Notentext akkurat beginnend, fehlen im ‚Straube-Manuskript‘ der Phantasie sämtliche Vortragsbezeichnungen in roter Tinte, der Choraltext ist nur in der ersten Strophe vollständig, in der zweiten und dritten Strophe zeilenweise und anschließend gar nicht wiedergegeben. Die Notierung des Notentextes wird zunehmend flüchtiger und schließlich skizzenhaft, um auf Seite 18 (sieben Takte vor Schluss) mit dem Vermerk abzubrechen: »von hier ab gleich rein ins Druckexemplar komponiert.« Hiermit endete die Tradition der ‚Straube-Manuskripte‘.

Auf der Sauer-Orgel der Willibrordikirche Wesel spielte Karl Straube ab 1898 die Uraufführungen der Choralphantasien opp. 27, 30, 40 Nr. 1, 52 Nr. 1 und 2, der Phantasie und Fuge c-Moll op. 29 sowie der Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46.

Willibrordikirche Wesel, zeitgenössische Ansichtskarte (gelaufen 1903), Reproduktion

Willibrordikirche Wesel, Innenraum mit der 1895 erbauten Sauer-Orgel, zeitgenössische Fotografie, Reproduktion

Reger und „sein“ Organist Straube

Phantasie und Fuge c-Moll op. 29, Notendruck – Umschlag

Widmungen von Kompositionen können einerseits Ausdruck persönlicher Verbundenheit, andererseits auch Zeichen der Ehrerbietung oder gar vornehmlich strategischer Natur sein, gelegentlich kommen alle drei Motive zusammen. Für die Unterstützung, als Komponist neue Verleger zu finden, dankte Reger dem neun Jahre älteren, aber schon arrivierten Richard Strauss mit der Dedikation seiner ersten nicht auf Choräle zurückgreifenden Orgelkomposition, die Straube schon im September 1898, vor der Drucklegung im März 1899, in Wesel zur Uraufführung brachte.

Die Notenhandschriften für Karl Straube konnten aus dessen Nachlass mit einer Ausnahme schon 1958 vom Max-Reger-Institut erworben werden. Das Manuskript einer der bekanntesten Orgelkomposition Regers, der Phantasie und Fuge über B-A-C-H, gelangte erst 2017 in die Sammlung des Max-Reger-Instituts. Das »Werk größten Styls und Kalibers« widmete Reger Josef Gabriel Rheinberger (1839–1901). Der hochgeschätzte Komponist und Professor an der Königlichen Akademie der Tonkunst in München war für Regers Entwicklung auch als Schöpfer von Orgelwerken, namentlich von zwanzig Orgelsonaten unterschiedlichster Form und Gestalt, nicht unbedeutend, deren Harmonik aber weit hinter den Ambitionen zurückblieb, die Reger mit seiner eher auf Liszt aufbauenden Komposition verfolgte. Der schwerkranke Rheinberger konnte weder der Uraufführung durch Straube Ende Juni 1900 in Wesel noch der Folgeaufführung im Rahmen der Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Heidelberg im Juni 1901 beiwohnen.

Phantasie und Fuge über BACH für Orgel op. 46
Phantasie
Heinz Wunderlich an der großen Sauer-Orgel im Berliner Dom (1999/2001) | Anhören

Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46, ‚Straube-Exemplar‘ – Mus. Ms. 204 – erworben 2017 – Titelseite u. S. 1

Die Kompliziertheit seiner Kompositionen verstand Reger als logische Entwicklung aus der musikalischen Geschichte; an Constantin Sander vom Verlag F. E. C. Leuckart (der gerade die Orgelsonate d-Moll Op. 60 druckte) schrieb er am 17. Juli 1902: »Ich gebe zu, daß manche meiner Orgelwerke große Schwierigkeiten bieten! Es sind bei meinen Werken weniger die technischen, als meine harmonische Melodik, welche zum „Kapieren“ Schwierigkeiten machen. Ich sage: Die Tonalität, wie sie Fétis vor 50 Jahren festgestellt hat, ist für 1902 zu eng. Ich verfolge den Lisztschen Satz: „Auf jeden Akkord kann jeder Akkord folgen“ eben konsequent. Daß mir dabei keine Dummheiten passieren, dafür bürgt das, daß es wohl wenige Musiker gibt, welche die alten und modernsten Meister so genau kennen als ich! Ich bin jung, sehr jung; bin extremer Fortschrittsmann und erlebe die Zeit schon noch; mein Vertrauen in die stets wachsende Intelligenz ist unerschütterlich! Es wäre doch herzensschade, wenn ich den altbekannten Weg einschlüge! Dann würde ich eine Eintagsfliege. Ich will aber mehr werden. Vor 100 Jahren hatten wir die allerersten Werke von Beethoven und heutzutage das Heldenleben von Strauß! Das ist fürwahr eine Entwicklungsgeschichte des menschlichen Ohres, die grandios ist!«

 

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