Das Attentat auf Matthias Erzberger im Spiegel der badischen Presse
Michael Fischer 26.8.2021 7.25 Uhr
DOI: https://doi.org/10.58019/9taw-6q87
Ein Mord in Baden erschüttert die Weimarer Republik: Am 26. August 1921 erschießen Rechtsterroristen den Politiker Matthias Erzberger in Bad Griesbach. Die Hintergründe des Attentats und die Reaktionen der badischen Presse zeichnet Dr. Michael Fischer, Fachreferent für Politik, im BLBlog nach.
Ein Demokrat der ersten Stunde: Matthias Erzberger nimmt im Jahr 1919 an der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung im Weimarer Schloss teil. © Bundesarchiv
Erholungsurlaub im Ortenaukreis endet mit Blutbad
Vor hundert Jahren wurde Matthias Erzberger während eines Urlaubsaufenthalts im Ortenaukreis ermordet. Zwei Attentäter streckten ihn mit zwölf Pistolenschüssen nieder. Matthias Erzberger stand wie kaum ein anderer Politiker für die junge Demokratie, das Attentat auf ihn erschütterte die Weimarer Republik. Der Badische Beobachter schrieb in einem Nachruf: „Erzberger war ein außerordentlicher Mann.“
Nur knapp ein Jahr später ereignete sich ein Attentat auf einen anderen Repräsentanten der Weimarer Republik: Walter Rathenau. Sebastian Haffner schrieb dazu in seiner 1939 verfassten Geschichte eines Deutschen: „Offenbar gehörte die Zukunft nicht den Rathenaus, die sich die Mühe machten, ungewöhnliche Persönlichkeiten zu werden, sondern den Techows und Fischers [den Mördern Rathenaus, Anm. d. Verf.], die einfach das Autofahren und Schießen lernten.“ Dieses Urteil kann auch für den Mordfall Erzberger gelten.
Erzberger engagiert sich schon in jungen Jahren
Der 1875 im kleinen Ort Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb geborene Matthias Erzberger wuchs in bescheidenen ländlich-katholischen Verhältnissen auf. Der begabte junge Mann besuchte eine Ausbildungsanstalt für Volkslehrer und fiel schon früh durch seine außergewöhnliche und scharfe Redebegabung auf. Erzberger wurde Redakteur bei einer dem Zentrum nahestehenden Zeitung und engagierte sich in der katholischen Arbeiterbewegung.
1903 wurde er mit 28 Jahren erstmals in den Reichstag gewählt. Dort profilierte Erzberger sich als Kolonialpolitiker und Fachmann in Finanz- und Militärfragen. Bei Kriegsausbruch im Jahr 1914 unterstützte er die deutschen Annexionsforderungen, setzte sich aber angesichts der militärischen Erfolgslosigkeit bereits ab 1917 für einen Verständigungsfrieden ein.
Waffenstillstand und Finanzreform machen Erzberger zur Zielscheibe
Im Zuge der schrittweisen Parlamentarisierung des deutschen Reichs wurde Erzberger 1918 zum Staatssekretär ernannt. Im November 1918 wurde er – als bekannter Vertreter eines Verständigungsfriedens für viele überraschend – zum Vorsitzenden der deutschen Waffenstillstandskommission berufen. Am 11. November 1918 unterzeichnete Erzberger im Einverständnis mit der Obersten Heeresleitung das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne.
1919 wurde er in die Weimarer Nationalversammlung und 1920 in den Reichstag gewählt. Als Reichsminister im Kabinett Scheidemann war Erzberger zuständig für die Durchführung des Waffenstillstandsabkommens. Im darauffolgenden Kabinett Bauer wurde Erzberger zum Reichsfinanzminister ernannt und setzte in dieser Funktion 1919/1920 eine sehr umfangreiche und tiefgreifende Reichsfinanzreform durch.
Am 11. November 1918 hat Matthias Erzberger im Wald von Compiègne das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, das den Ersten Weltkrieg beendete. Dafür wurde er später als „Novemberverbrecher“ bezeichnet.
Als „Novemberverbrecher“ ist er Hetze und Attentaten ausgesetzt
Neben seiner exponierten Rolle bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens machte diese Finanzreform Erzberger zur Zielscheibe der Propaganda der nationalen Rechten. Der DNVP-Politiker Karl Helfferich veröffentlichte sogar eine gegen Erzberger gerichtete Broschüre. Erzberger erstattete Anzeige wegen Beleidigung. Zwar wurde Helfferich zu einer geringen Geldstrafe verurteilt, Erzberger trat aber aufgrund der anhaltenden und massiven öffentlichen Hetze gegen seine Person als Reichsminister zurück.
In dieser aufgeheizten Stimmung fand das Attentat auf Erzberger statt: Nachdem bereits zwei frühere Mordversuche erfolglos geblieben waren, wurde Erzberger am 26. August 1921 – kurz bevor er sich wieder voll in die Reichspolitik einbringen wollte – bei einem Spaziergang in Bad Griesbach im Schwarzwald von zwei Mitgliedern der rechtsterroristischen Organisation Consul ermordet.
Der Badische Beobachter urteilt: „Es musste so kommen“
Die regionale Berichterstattung zu den Ereignissen rund um die Ermordung Erzbergers lässt sich in den badischen Zeitungen umfangreich nachverfolgen. Sie sind von der Badischen Landesbibliothek vollständig digitalisiert worden und im Volltext durchsuchbar. Die Berichte bieten nicht nur einen regionalen Blick auf die Ereignisse, sondern vermitteln auch einen Eindruck von der facettenreiche Presselandschaft der Weimarer Republik. Sie ermöglichen einen landeskundlich-spezifischen Blick auf ein historisches Großereignis und dessen Nachwirkungen.
Der Badische Beobachter zum Beispiel: Das Presseorgan von Erzbergers Zentrumspartei kommentierte am Folgetag des Mordes auf seiner Titelseite: „Es musste so kommen. Als Erzberger vor zwei Jahren zum ersten Mal das Ziel einer Kugel war, […] da sagten manche, daß ein späteres Attentat nicht so glimpflich verlaufen“ werde. Die Zeitung benannte die Agitation der nationalen Rechten gegen Erzberger als Ursache für den Mord: „Das Treiben gegen Erzberger war verbrecherisch und hat nun mit einem furchtbaren Verbrechen geendigt.“ Die Erschütterung angesichts des „feigen Mordes“ zieht sich auch durch die Berichterstattung der kommenden Tage und Wochen.
Das Karlsruher Tagblatt beschreibt Erzberger mit kritischem Blick
Weit nüchterner berichtete das der nationalliberalen DVP nahestehende Karlsruher Tagblatt über die Ermordung Erzbergers. Auch hier wurde jedoch von einer „verbrecherischen Tat“ gesprochen, die „höchste Entrüstung“ hervorrufe. Mit diesem aus „politische[n] Motive[n]“ durchgeführten Mord zeige sich die immer weiter fortschreitende „Balkanisierung Deutschlands“.
Gleichzeitig wies das Tagblatt jedoch auch auf den umstrittenen Charakter Erzbergers hin: Erzberger habe „durch Veranlagung und Gebaren exponierte Stellen suchend, oft die Kritik und die Unzufriedenheit weiter Kreise des Volkes in einer Weise“ hervorgerufen, „die auch ihm Nahestehende und durch Lebens- und Weltanschauung mit ihm Verbundene“ zu einem „allmählichen Abrücken“ von seiner Person veranlasst habe.
Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) nutzt die Dolchstoßlegende 1924 auf einem Plakat für ihre Wahlwerbung.
Der Volksfreund sieht den Mord als Rache des Kapitals
Der sozialdemokratische Volksfreund, die Tageszeitung für das werktätige Volk Mittelbadens, sprach hingegen drastisch vom „politische[n] Meuchelmord“ an Erzberger, der ein „Opfer der deutschnationalen-militaristischen Hetze“ geworden sei. Erzberger sei in diesen „Kreisen“ eine der am „allermeisten gehaßten Persönlichkeiten“ gewesen.
Als Ursache für den Hass benannte das sozialdemokratische Blatt vor allem Erzbergers Finanzreform, die erstmals in Deutschland „wirkliche[n] Besitzsteuern“ eingeführt habe und sein Eintreten für „Republik“ und „Demokratie“. Das von Erzberger herausgeforderte und durch „Kriegsgaunerei“ und „Nachkriegswucher“ noch reicher gewordene „Kapital“ habe nun blutige „Rache“ an diesem genommen.
Weiter benannte der Volksfreund klar die seit Jahren stattfindende „Hetze“ der „deutschnationale[n]“ und „volksparteiliche[n]“ Presse wegen Erzbergers Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens. Er wies historisch korrekt darauf hin, dass es jedoch die Oberste Heeresleitung unter „Hindenburg und Ludendorff“ gewesen war, die die Reichsregierung zur Unterzeichnung des „sofortigen Waffenstillstand“ aufgefordert hatte. Von einem „Verrat“ Erzbergers konnte deswegen keine Rede sein, vielmehr habe Ludendorff Erzberger als „Unterhändler“ entsendet und diesem die „Schuld“ übertragen.
Bei aller Sympathie für die Person Erzbergers und bei aller Abscheu über die Mordtat, nutzte die sozialdemokratische Presse den Mord jedoch auch, um auf die innerparteilichen Gegner Erzbergers im Zentrum zu verweisen. Diese hätten sich gegen Erzbergers Comeback gewehrt, da die in der Reichstagsfraktion angestoßene „Rechtsorientierung“ durch den Widerspruch Erzbergers in hohem Maße „gefährdet“ worden sei.
Prognose: Das Attentat „wird nicht der letzte politische Meuchelmord sein“
Nachdem im Zuge der Novemberrevolution 1918/19 vor allem prominiente Sozialisten und Kommunisten durch die nationale Rechte ermordet worden waren – unter anderem Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht (beide KPD) und Kurt Eisner (USPD) – war Erzberger der erste prominente bürgerliche Politiker, der einem Attentat zum Opfer gefallen war.
Der Volksfreund sah dies als Vorboten einer dräuenden „monarchistischen Gegenrevolution“ und kritisierte couragiert das „jämmerliche Verhalten“ einer „Mehrheit der Bevölkerung“, die nichts unternehmen würde, um die Republik zu verteidigen.
Recht sollte der Volksfreund auch in seiner Prognose behalten: „Der Meuchelmord an Erzberger wird nicht der letzte politische Meuchelmord sein.“ Wenige Zeit später, im Juni 1922, folgte der Mord an Reichsaußenminister Walther Rathenau (DDP).
Das Attentat war ein Auftragsmord
Bei den Tätern, im Badischen Beobachter als „gut gekleidete[n], jüngere[n] Herren“ beschrieben, handelte es sich um zwei Offiziere und Mitglieder der rechtsterroristischen Organisation Consul: Heinrich Tillessen (1894–1984) und Heinrich Schulz (1893–1979). Nach der Tat flohen die beiden, um sich der Strafverfolgung zu entziehen, über München nach Budapest und schließlich nach Spanien.
Im Juni 1922 musste sich der Auftraggeber des Mordes, Manfred von Killinger (1886–1944), ebenfalls Mitglied der Organisation Consul und später ein ranghoher NSDAP-Politiker und Diplomat, vor dem Offenburger Schwurgericht verantworten. Er wurde jedoch am 13. Juni 1922 freigesprochen.
Dazu kommentierte der Volksfreund bissig: „Der aufmerksame Leser der Prozeßberichte ist wahrscheinlich von dem Freispruch nicht überrascht. Die militärisch-konterrevolutionären Geheimbündler halten dicht, das muss man ihnen lassen.“ Die Geschworenen hätten sich schlicht dem „Eindruck“, den einige der geladenen Zeugen auf diese gemacht hätten, nicht entziehen können. Dass es sich bei Schulz und Tillessen jedoch um die Mörder Erzbergers handelte, sei im „Prozeß wohl einwandfrei erbracht worden“. Und weiter: „Vorläufig sind die Zeiten in Deutschland für nationalistische Mordbuben und ihre Helfershelfer noch günstig.“
Die NSDAP stellt sich hinter die Täter
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden „Straftaten, die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes“ begangen worden waren, in der Straffreiheitsverordnung von 1933 amnestiert.
Der nationalsozialistische Führer, das Hauptorgan der badischen NSDAP, schrieb dazu lapidar: „In der Zeit der Kämpfe hat sich in dem leidenschaftlichen Ringen um die Durchsetzung des nationalen Kampfes mancher zu Handlungen hinreißen lassen, die gegen die Strafgesetze verstoßen [haben].“
Auch Schulz und Tillessen mussten keine weitere Strafverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland fürchten. Am 11. April 1933 jubelte der Führer auf der Titelseite: „Amnestie für die Richter Erzbergers“. Dieser stehe für die „Erniedrigung“ des deutschen Volkes, den „Dolchstoß in den Rücken der Front, die im Begriffe war, die schwer geschlagenen feindlichen Armeen gänzlich niederzuringen“. Offen wurde der Mord als solcher und die Täter als solche bezeichnet.
Endlich widerfahre den beiden Mördern, die „zwölf Jahre verfemt und verfolgt“ worden seien, Gerechtigkeit, indem sie „endlich in ihre Heimat zurückkehren“ konnten. Die beiden Attentäter wurden wie Helden verehrt: „Wir wissen, daß Schulz und Tillessen in den qualvollen Jahren der Verbannung nie wankend geworden sind und daß sie […] an den endlichen Sieg des Guten, an Adolf Hitler und seine Bewegung geglaubt haben, in einer Beharrlichkeit, die ihresgleichen suchen dürfte.“
Freispruch sorgt in der Badische Neueste Nachrichten für Empörung
Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs standen Schulz und Tillessen für den Mord an Erzberger vor Gericht. Tillessen musste sich seit August 1946 juristisch verantworten, wurde jedoch am 29. November 1946 – unter Anwendung der nationalsozialistischen Straffreiheitsverordnung von 1933! – freigesprochen, obwohl er sich selbst als schuldig bekannt hatte.
Die neugegründete Badische Neueste Nachrichten bezeichnete den Ausgang des Verfahrens als „unglaublich, unfassbar“ und als Symbol für die nachlässige Entnazifizierung. Es sei „Gefahr […] im Verzuge“, dass sich die „aktiven nazistischen und reaktionären Kreise“ geradezu ermutigt fühlen müssten, die neu entstehende Demokratie erneut zu bekämpfen.
Der Artikel zum Tillessen-Prozess schloss mit dem Aufruf: „Der Feind steht rechts. Der Nazismus, der Faschismus und der Militarismus leben noch […]! Die Freiburger Entscheidung beleuchtet grell, was alles im neuen Deutschland möglich ist. Zuviel bereits. Die Wächter der Demokratie sind aufgerufen!“
Die Beratende Landesversammlung des Landes Baden beschloss sogar eine fraktionsübergreifende Resolution. Darin wurde der Ausgang des Tillessen-Prozesses auf das „entschiedenste abgelehnt“. Sie forderte die lückenlose Aufklärung der Mordtat, die zur „Vernichtung der demokratischen Ordnung und der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten“ wesentlich beigetragen habe. Die Landesversammlung war mit der der Ausarbeitung einer künftigen Landesverfassung betraut und tagte zur Zeit des Prozesses.
Verurteilung des Mörders führt zu tumultartigen Szenen
Das Urteil wurde von der französischen Besatzungsmacht aufgehoben und dabei juristisch klargestellt, dass die Straffreiheitsverordnung von 1933 in einem erneuten, nun vor dem Kammergericht in Konstanz stattfindenden Prozess keine Anwendung mehr finden dürfe. Am 28. Februar 1947 wurde Heinrich Tillessen schließlich in Konstanz zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, 1952 aber bereits wieder aus der Haft entlassen.
Sein Mittäter Heinrich Schulz wurde am 19. Juli 1950 vor dem Schwurgericht Offenburg zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt – im gleichen Gerichtssaal, in dem der „geistige Inspirator“ des Erzbergermordes, Manfred von Killinger, 1922 freigesprochen worden war. Nach der Urteilsverkündigung kam es zu tumultartigen Szenen, da zahlreiche Zuhörer das Urteil als zu hart auffassten. Die Strafe wurde ebenfalls 1952 zur Bewährung ausgesetzt.
Ein Artikel der BNN aus dem Jahr 1950 befasst sich mit einem der Gerichtsurteile im Fall Erzberger.
Gedenken an Matthias Erzberger
Heute steht in Bad Griesbach, an der Stelle, an der Erzberger 1921 ermordet wurde, ein Gedenkstein. In seinem Geburtshaus in Buttenhausen besteht heute die Erinnerungsstätte Matthias Erzberger. In vielen deutschen Städten sind heute Straßen nach Matthias Erzberger benannt, so auch in Karlsruhe.
Weiterlesen in der BLB
In ihren Digitalen Sammlungen macht die Badische Landesbibliothek (BLB) unter anderem zeitgeschichtliche Dokumente für Forschung und Lehre zugänglich. Zu den Sammlungen gehören auch die hier kursorisch dargestellten badischen Zeitungen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs.
Von der BLB digitalisierte Werke Erzbergers finden sich hier. Im Bestand der BLB findet sich zudem umfangreiche Literatur von und über Matthias Erzberger.
Erzberger, Matthias
Organisation Consul
Bad Peterstal-Griesbach
Attentat
Killinger, Manfred von
Schulz, Heinrich
Tillessen, Heinrich