Straube als kritischer Berater

Max und Elsa Reger mit der „Alten Regergarde“ Max Hehemann, Theodor Müller-Reuter, Karl Straube und Max Kuhn, Essen 1905, zeitgenössische Fotografie, Reproduktion

Karl Straube, Fotografie von E. Hoenisch, Leipzig um 1904, Reproduktion

Seinen Freundes- und Bekanntenkreis bat Reger immer wieder um Vorschläge von komponierbaren Texten, von denen er dann oft nur einen kleinen Anteil vertonte. Entsprechend hoch war sein Bedarf an Textvorschlägen, und auch Straube wurde in diese Suche eingebunden. Im Fall von geistlichen chorsymphonischen Werken legte Straube sogar selbst Hand an und kompilierte Bibeltexte zu einem Textvorwurf bzw. entwarf ein Oratorienkonzept. In beiden durch Korrespondenz belegten Fällen kam es nicht zur Realisierung.

Auf dem Weg in die Sommerferien 1905 hatte Reger Straube in Leipzig getroffen und ihn um eine Zusammenstellung von Bibeltexten für ein Chor-Orchesterwerk gebeten. Straube erfüllte die Bitte umgehend, und Reger war mit seinem Vorschlag unter dem Titel Ein Hymnus vom Tode und ewigen Leben »ganz u. gar einverstanden, finde den Text ganz hervorragend! [...] Der Titel: [...] ist grandios!« Konkrete musikalische Vorstellungen waren zu diesem Zeitpunkt bereits vorhanden: »Vielleicht ist’s gut in der Quadernschlußfuge, wo alles außer Rand u. Band ist, den Choral: „Jesus, meine Zuversicht“ vom Knabenchor singen zu lassen (in der Höhe aufgestellt).« Obwohl Reger auf der Rückfahrt ans Sterbebett von Josef Reger gerufen wurde und sich sofort entschloss, den Hymnus dem Andenken seines „theueren Vaters“ zu widmen, musste er die Komposition wegen anderer Projekte bis Herbst 1906 zurückstellen; seiner Sache sicher, versprach er Fritz Steinbach jedoch bereits die Uraufführung »für übernächste Saison (1907/08)« (Brief vom 29. Mai 1906). Am 6. September 1906 sandte Reger Straube den Text nochmals zu und kommentierte seinen Kompositionsplan ausführlich, u. a. mit der Idee, den Choral in der Schlussfuge durch ein Fernorchester vortragen zu lassen: »Dadurch, daß diese 3 Trompeten u. 3 Posaunen (es können auch mehr sein) in einem Nebensaal aufgestellt sind, beim Einsatz der Orgel u. des Knabenchores würde der Klang sozusagen idealisiert u. müßte das wohl so klingen, als wenn dieser Posaunen- u. Trompetenchor direkt aus dem Himmel käme.« Auch wenn Reger im Oktober 1906 intensiver an der musikalischen Ausarbeitung der Hymnus gearbeitet haben muss, ist heute die von Elsa Reger erstellte und von Reger annotierte Abschrift des Textes die einzige erhaltene Quelle. Nach diesem Brief findet das Werk keine Erwähnung mehr.

Ein Hymnus vom Tode und ewigen Leben für Chor, Kinderchor, Orchester u. Orgel WoO V/5, Elsa Regers Abschrift von Straubes Textentwurf mit Regers Anmerkungen zur musikalischen Ausarbeitung im Brief an Fritz Steinbach 26. Oktober 1906 – Ep. Ms. 1446 – erworben 1978 –Anlage, S. 1–3

Regers Familie in München, um 1903, historische Buchveröffentlichung, Reproduktion

Konventionelle Gruppenfotos der Familie Reger gibt es nicht. Um 1903 muss bei Max Regers Eltern in München jene Fotografie entstanden sein, die Philomena, Emma und Josef Reger in vereinzelter Pose präsentiert. Emma steht an einem der Vogelkäfige, Josef Reger sitzt selbstvergessen mit leerem Blick und geöffnetem Mund, Philomena nachdenklich am Tisch. Hinter Josef Reger eine der beiden Gipsfassungen der 1903 entstandenen fast überlebensgroßen Marmorbüste Regers von der Hand Theodor von Gosens (1873–1943), einem Schüler der Münchner Kunstakademie und Freund Adolf von Hildebrands, dem Reger aus Dank sein avantgardistisches Steichquartett d-Moll op. 74 widmete.

 

Martin Boelitz

Ludwig Kühn (1859–1936), Martin Boelitz, Porträtzeichnung aus Ausgewählte Gedichte von Martin Boelitz, Leipzig: Fritz Eckardt 1908, Reproduktion

Boelitz (1874–1918) entstammte einer Pastorenfamilie. Er besuchte das Gymnasium in Wesel bis zur Obersekunda und war anschließend als Bankkaufmann und Börsenagent tätig. Sein Einjährig-freiwilliges Militärjahr leistete er 1896/97 ab. Von 1899 bis 1901 hielt er sich in London auf und lernte während dieser Zeit die dunkelsten Armenviertel der Stadt kennen; in der Folge entstand der Gedichtband London. Soziale Gedichte. Ab 1902 war er literarischer Beirat des Verlags Nieter in Nürnberg und kehrte, wegen Herzschwäche ausgemustert, bei Kriegsausbruch mit seiner Familie nach Wesel zurück, wo er Inhaber einer Buchhandlung und Herausgeber der Weseler Zeitung wurde. Straube vermittelte den Kontakt zwischen Boelitz und Reger, und Boelitz wurde mit 26 Liedvertonungen Regers am häufigsten vertonter Dichter.

Martin Boelitz, Präludium, aus Boelitz’ Gedichtband London. Soziale Gedichte, Berlin-Eberswalde u. Leipzig 1901, S. 7, Reproduktion

Boelitz’ Gedichtbände sind heute nur in wenigen Bibliotheken nachgewiesen, da die sensitive Dichtkunst der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lange als nicht sammelwürdig galt. Viele für die Reger-Forschung wichtige Gedichtquellen konnten im Reger-Werk-Verzeichnis (erschienen 2010 im Münchner Verlag G. Henle) nachgewiesen werden Recherchen für die Reger-Werkausgabe konnten darüber hinaus diverse weitere Quellen spezifizieren und verfügbar machen.

Präludium op. 70 Nr. 1, Stichvorlage – Mus. Ms. 015, erworben 1967

Die Siebzehn Gesänge op. 70 gehören zu dem musikalisch Komplexesten in Regers Liedschaffen, und so wichtig gerade diese Liedopera von op. 48 bis op. 75 als Bindeglieder zwischen Hugo Wolf und Arnold Schönberg sind, so weiträumig werden sie von Interpreten gemieden. Die schweifenden Modulationen legen nahe, dass Regers Liedschaffen gerade dieses Zeitraums eher aus der Warte Wolfs und Schönbergs denn aus den Warte Brahms’ einzustudieren ist.

Max Reger, Zwölf Lieder op. 51 & Siebzehn Gesänge op. 70, dreyer gaido 2023

Erste Gesamteinspielung der beiden umfänglichen Liedopera. Eine erste Reger-Lieder-CD, gleichfalls mit zahlreichen CD-Premieren, hatten Markus Schäfer (Tenor), Ernst Breidenbach (Klavier) 2007 vorgelegt.

Präludium op. 70 Nr. 1 (Martin Boelitz)
Markus Schäfer (Tenor), Ernst Breidenbach (Klavier) (2009) | Anhören

 

Von Wesel in die Welt – Die Nonnen

Martin Boelitz, Die Nonnen, aus Boelitz’ Gedichtband Frohe Ernte. Noch einmal Verse, Minden: J. C. C. Bruns 1905, S. 17, Reproduktion

Reger kannte Boelitz’ Gedicht bereits seit 1901 in einer Handschrift des Dichters, und Ende April des Jahres wandte er sich an den fast Gleichaltrigen mit Änderungsvorschlägen in der Dichtung (»Wehmutsweiche Glocken« statt »Dumpfe Feierglocken«, »junge Seelen« statt »junge Mädchenlippen«). Noch Ende des Jahres 1903 plante er, den Text für Chor und Orchester zu vertonen, doch mag Boelitz’ erste Strophe ihn noch haben zögern lassen. Die Druckfassung von 1905 greift Regers Änderungswünsche auf, wählt aber metrisch angemessen andere Lösungen.

Erst im April 1909 kam Reger auf Boelitz’ Textvorlage zurück: »Text wundervoll zum Chorwerk hab’ ich – höchst eigenartig! Ganz neu in der Stimmung! Er ist von Boelitz!« (Brief an Straube, 29. April 1909). Seinem Verlag gegenüber bezeichnete er die Komposition als »ein Stimmungsbild, wie wir es in der gesamten Chorliteratur bis jetzt noch nicht haben!« (Brief an Ed. Bote & G. Bock, 23. Mai 1909). Und wenige Tage später an denselben Empfänger: »Der Gesang der Nonnen wird im Gegensatz zu dem mystisch-sinnlichen Stimmungsgehalt des übrigen Gedichtes in bewusst ganz alter Art so z. B. in einer alten Kirchentonart im Style des 14.–15. Jahrhunderts gehalten, was dem Werke einen ganz aparten Reiz geben wird und muss! Diesen 2maligen Gesang der Nonnen werde ich nur für Frauenchor und nur mit Begleitung von Bratschen (geteilt diese!) [...] komponieren und wird durch diese Begleitung ein höchst herber, „jungfräulicher“ Klang erzielt, der sich ganz enorm von der Klangfarbe der anderen Verse abheben muss. Eine ganz große Steigerung kann man bei den Worten „Sieh, und aus dem goldenen Rahmen [...]“ erzielen! Der Schluss dann in höchster Verklärung!« Reger schloss die Komposition am 5. August im Sommerurlaub an der Ostsee ab. Um sich mit dem fertigen Werk vertraut zu machen, überließ Reger die Korrekturabzüge Straube für zwei Wochen unmittelbar vor Drucklegung.

Die Nonnen op. 112 für Chor und Orchester, Stichvorlage – Mus. Ms. 058 – erworben 1977 – S. 50–51

Fredenbaum Dortmund, Großer Saal, zeitgenössische Ansichtskarte (gelaufen 1906), Reproduktion

Der Saalbau im Fredenbaumpark in der Dortmunder Nordstadt war einer der zahlreichen Räumlichkeiten der damaligen Zeit, die in unterschiedlichster Weise nutzbar waren. Selbst eine Orgel war in dem Bau vorhanden, so dass auch anspruchsvolle Orchester- oder Chorkonzerte möglich waren.

Festbuch des Max-Reger-Festes Dortmund 1910 – D. Ms. 168

Am 7., 8. und 9. Mai 1910 fand in Dortmund das erste Musikfest statt, das dem damals noch sehr umstrittenen Max Reger und seinem umfangreichen Schaffen gewidmet war. Dieses Fest, von begeisterten Idealisten und hervorragenden Musikern aufs Beste vorbereitet und von der Stadt Dortmund – an ihrer Spitze Oberbürgermeister Dr. Schmieding – sowie zahlreichen Dortmunder und auswärtigen Mäzenen tatkräftig unterstützt, wurde zu einem kulturellen Ereignis allerersten Ranges. Regers Werke wurden in neun Konzerten in einer reichen Auswahl zum Erklingen gebracht. Die Uraufführung der Nonnen erfolgte am 8. Mai 1910, es musizierten der Chor des Dortmunder Musik-Verein und das Städtische Orchester Dortmund, verstärkt durch Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Berlin und des Städtischen Orchesters Essen unter der Leitung von Musikdirektor Julius Janssen.

 

Verständnisprobleme – Reger setzt sich 1902/3 über Straubes Urteil weg

Gesang der Verklärten op. 71 für Chor und Orchester, Stichvorlage – Mus. Ms. 016 – erworben 1979 – S. 1

Einen Höhepunkt der Komplizierung hatte Jahre zuvor Regers erstes großdimensioniertes chorsymphonisches Werk mit der Widmung »Meiner geliebten Elsa« geboten. Schon in der Zeit der Werbung um Elsa von Bercken hatte er das Gedicht Gesang der Verklärten von Carl Busse für ein »Chorwerk (5 stimmig mit großem Orchester)« entdeckt; »nicht wahr, es ist sehr schön u. in der Stimmung ganz ausgezeichnet – mal was Neues? [...] N.B. daß er gelegentlich etwas „rhythmenlos“ ist, schadet nichts – das gibt Gelegenheit zur ‚Herausarbeitung‘ von feinsten Symmetriedurchbrechungen.« (Brief an Theodor Kroyer vom 3. Mai 1902). Der Schritt vom Entwurf zur vielstimmigen Partitur hat etwas durchaus Wucherndes; das Ergebnis in seiner Schönbergs Gurreliedern vergleichbaren »neuromantischen« Sensibilität, die »sich in ein unendlich differenziertes Klanggewoge entlädt« (Richard Hamann/Jost Hermand), musste Reger selbst gegenüber Straube verteidigen, der bei den Verlegern gegen das Werk votiert hatte: »mein lieber Carl – Dein Urtheil in allerhöchsten Ehren«, habe er doch »die feste Überzeugung gewonnen«, dass der Freund nicht im Recht sei (Brief, 14. Oktober 1904). Dennoch verzichteten Regers Hauptverleger Lauterbach & Kuhn auf Straubes Rat hin auf eine Veröffentlichung, nicht zuletzt des zu erwartenden kaufmännnischen Verlusts wegen. Erst 1905 erschien das Werk im Verlag C. F. W. Siegel, von dem Reger für die 50-seitige Partitur und den Klavierauszug ganze 500 Mark Honorar, kaum mehr als Kopistenlohn, erhielt. Aufführungen des Werks sind bis heute extrem rar geblieben, auch eine Fassung mit reduzierter Orchesterbesetzung konnte keine Abhilfe leisten.

Max und Elsa Reger 1903, Fotografie, Reproduktion

Merkwürdigerweise hat sich kein Originalexemplar dieser Fotografie, kurz nach der Eheschließung im Oktober 1902 entstanden, erhalten, nicht einmal in Elsa Regers Nachlass. Interessant ist, dass sich Reger gerade im ersten Ehejahr am ehesten gegen Straubes Empfehlungen durchsetzte.

Straube hatte Reger von der Veröffentlichung seiner Beiträge zur Modulationslehre, einem kurzen Traktat zu dem Themenbereich, wie man in effizienter und musikalisch kluger Weise von einer Tonart zu einer anderen kommt, abgeraten. Das nur 54 Seiten umfassende Büchlein mit 100 Notenbeispielen, das bereits 1904 seine zweite Auflage erlebte, wurde ein Kassenschlager und in viele Sprachen übersetzt (die vorgelegten Ausgaben sind nur eine Auswahl). Unverhältnismäßig war die geringe Honorierung, die Reger für das Bändchen erhielt – 200 Mark abzüglich der Herstellungskosten.

 

Beiträge zur Modulationslehre Schriften A1, Erstausgabe C. F. Kahnt Nachf., Leipzig 1903, Ausgaben in französischer und englischer Sprache 1903 bzw. 1904, mehr als 20 Auflagen der englischen und deutschen Ausgabe. Weitere Ausgaben in Italienisch, Spanisch, Russisch, Amerikanisch, Japanisch

‚Wohltätige Sprünge‘ im Klaviertrio op. 102

Im Falle des Klaviertrios e-Moll ist schon Ende 1907 Regers Austausch mit Straube nachweisbar. Am 13. Februar 1908 lud Reger Straube zu sich ein, um den ersten Satz des Werks zu besprechen, während er schon fleißig an der Ausarbeitung des zweiten arbeitete. Besonders der erste Satz weist Streichungen auf, von denen einige (S. 8, 10, 13) in der frühesten Arbeitsphase, d.h. vor der Durcharbeitung mit roter Tinte erfolgten. Nach der Uraufführung aus dem Manuskript am 22. März 1908 im Leipziger Gewandhaus, bei der die Länge des ersten Satzes beanstandet wurde, nahm Reger zwei weitere Kürzungen vor (S. 12 bzw. 15), die, so berichtet Reger seinen Verlegern Lauterbach und Kuhn, »unter Assistenz von Herrn Straube bewerkstelligt« wurde (Brief, 25. März 1908). Bernhard Huber hat darauf hingewiesen, dass im Dienste »größerer Klarheit und noch größerer Wirkung« (Reger) drei Steigerungsprozesse mit Höhepunkten eliminiert wurden.

Klaviertrio e-Moll op. 102, Stichvorlage – Mus. Ms. 052 – erworben 1982 – S. 12–13

Max Reger bei der Kompositionsarbeit 1908, Fotografie von Fritz Stein, Reproduktion

Immer wieder finden wir Fotografien von Max Reger bei der Arbeit, eine Zigarette oder Zigarre rauchend. Selbst beim Schwimmen in Gebirgsseen durfte die Zigarre nicht fehlen. Das Rauchen war schlussendlich ursächlich für Regers Herztod am Morgen des 11. Mai 1916 im Leipziger Hotel Hentschel.

Programmzettel des Konzerts im Leipziger Gewandhaus am 21. März 1908

Ein typisches gemischtes Kammermusikprogramm der damaligen Zeit. Neben der Uraufführung von Regers Klaviertrio durch Edgar Wollgandt, Julius Klengel und Reger am Klavier erklangen Johannes Brahms’ Violinsonate G-Dur op. 76 (ein Lieblingswerk Regers) und Beethovens spätes Streichquartett a-Moll op. 132.

Klaviertrio e-Moll op. 102, I. Allegro moderato, ma con passione
(Ausschnitt)
Hyperion-Trio: Oliver Kipp (Violine), Katharina Troe (Violoncello), Hagen Schwarzrock (Klavier) (2007) | Anhören

 

Geschichte eines Abbruchs

Kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges konkretisierten sich Regers Pläne zur Arbeit an einem lateinischen Requiem, der Straube allein schon wegen des lateinischen Textes skeptisch gegenüberstand. Nachdem Reger den ersten Satz des Requiem, enthaltend Introitus (»Requiem aeternam«) und Kyrie, zügig vollendet hatte, brachte er diesen Karl Straube erstmals am 19. oder 20. November und nochmals am 30. November oder 1. Dezember zu Durchsicht und Besprechung nach Leipzig mit. Am 30. November bzw. 1. Dezember überließ er dem Freund bis zum nächsten Treffen das Manuskript, um es danach zum Druck einzureichen. Dieses Treffen am Montag, dem 14. Dezember 1914, im Leipziger Café Hannes sollte das Schicksal der Komposition besiegeln. Fataler aber als das bloße stilistische Unverständnis für die Modernität des Requiem war Straubes Einflussnahme auf Regers Psyche. Elsa Reger schrieb aufgewühlt in einem Brief an die Frau von Fritz Stein:

»Eben kommt Max aus Leipzig u. sagt mir, daß er das Requiem nicht fertig schreibt, Straube hat ihm bewiesen, daß er dem Stoff nicht gewachsen ist u. nun kann er es nicht fertig schreiben. Ich bin ganz außer mir. Straube mit seinem kühlen, zersetzenden Geist beraubt uns um ein herrliches Werk. 1/4 Jahr höre ich es, u. weiß doch so viel, daß es groß u. schön ist. Wie oft 5–6 Male weiß ich allein, hat Straube Werke von Max verworfen, die dann groß u. herrlich waren u. ihren Weg gingen. Straubes Einfluß ist nicht gut auf Max; ich kann es nicht verwinden, daß er ihm den Glauben nahm, solch Werk schaffen zu können. Es ist das Einzige, wenn ein Meister ein Werk schafft, soll er am Werke still daheim bleiben, bis es vollendet ist, sich beim Werke unter keinen fremden Einfluß stellen. Wer als Reger kann uns ein Requiem schaffen? Ist es nicht Sünde in diesem Meister den Zweifel zu wecken u. ihm ein fast fertiges Werk als nichtig hinstellen? Er wird dies Werk, entstanden in dieser großen Zeit nie vollenden, da St. ihm die Freude daran getötet. Ihr Fritz schreibt aus dem Felde „laß Dich durch nichts aufregen u. ablenken von diesem großen Werk“, nun liegt es zertrümmert am Boden u. Max ist ganz darnieder. Solche selischen Stimmungen sind ja aber in anderer Hinsicht von so unsagbarer Gefahr; an all das denkt St. gar nicht. Er ist eben eine kalte, ewig zergrübelnde Natur. Diese That verzeihe ich St. nie. «

Der Abbruch des Requiem verursachte eine schwere Schaffenskrise, aus der sich Reger erst nach seinem Umzug nach Jena im Frühjahr 1915 herauskämpfte. Auch hieraus mag verständlich sein, warum er sein letztes großes Orgelwerk, die Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b, Straube erst unmittelbar vor Drucklegung, nach intensiver revidierender Durcharbeit vorlegte, so dass dieser nur noch einige kleinere Fehler finden und Anmerkungen machen konnte.

Requiem d-Moll WoO V/9, II. Dies irae.
Katharina Persicke (Sopran), Anna Maria Dur (Mezzosopran), Ferdinand von Bothmer (Tenor), Florian Plock (Bass), Kammer- und Oratorienchor der Christuskirche Karlsruhe, Kammerphilharmonie Karlsruhe, Carsten Wiebusch (Christuskirche Karlsruhe 11. 5. 2014) | Anhören

 

Requiem d-Moll WoO V/9, I. Satz – Mus. Ms. 123 – erworben 1988 mittelbar aus dem Nachlass Karl Straubes – S. 1

Requiem d-Moll WoO V/9, II. Satz – Mus. Ms. 124 – erworben 1998 mittelbar aus dem Nachlass Karl Straubes – S. 40–41

Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b

Im März 1915 bezog Reger mit seiner Familie eine Villa in der Beethovenstraße in Jena. In dieser ruhigen Atmosphäre erhielt er seine Schaffenskraft zurück, die ihm der Abbruch des Requiems geraubt hatte. Als erstes Werk des »freien jenaischen Stils« entstand im April/Mai Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b für Orgel. Als Reger am 17. Mai das Manuskript dem Verlag N. Simrock zur Drucklegung übersandte, kündigte er diesem ein »Orgelwerk größten Styls – aber nicht zu lang« an.

Im Zuge der Bearbeitung der Korrekturfahnen nahm Reger im April 1916 drei einschneidende Kürzungen vor. Von den bereits gestochenen zwanzig Seiten entfielen vier. Die Korrekturfahnen zeigen den gleichen Abschnitt der Manuskriptseite, nun aber in stark gekürzter Form. Ein Takt auf Seite 14/13 wurde als Übergang neukomponiert, die letzten zwei Takte der Fahne aus der ursprünglichen Seite 16 ausgeschnitten und eingeklebt, um einen nahtlosen Übergang zu Seite 17/14 zu schaffen.

Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b, 1. Korrekturabzug mit gestrichenen Seiten und Überklebungen – Mus. Kf. 012 – erworben 1973 aus dem Nachlass Karl Straube – S. (14)/13 und (17)/14

Ottmar Schreiber, Zur Frage der gültigen Fassung von Regers Orgel-Opus 135b, in Mitteilungen des Max-Reger-Instituts 19. Heft (1973), S. 34–38

Unmittelbar nachdem die Korrekturfahnen des Werkes in den Besitz des Max-Reger-Instituts. gekommen waren, verfasste der damalige Leiter des Max-Reger-Instituts einen Aufsatz, der über den Quellenfund informierte. Es war nun belegt, dass die nachträglichen Streichungen in Opus 135b von Regers Hand vorgenommen worden waren. Zuvor hatte sich das Gerücht verbreitet, Karl Straube hätte sie in seiner Funktion als Regers Berater vorgenommen.

Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b, 2. Korrekturabzug op. 135b mit Korrektur des 1. Korrekturabzugs – Mus. Kf. 013 – erworben 1973 aus dem Nachlass Karl Straube – S. 13

Am 11. April 1916 traf sich Reger mit Straube in Leipzig, um mit ihm die Korrekturfahnen des Opus 135b durchzugehen. Am Tag darauf sandte er die um vier Seiten gekürzten Fahnen zurück an den Verlag. An Straube schrieb er eine Postkarte mit dem vielsagenden Hinweis: »Die Änderungen in dem Orgelwerk hab’ ich schon alle gemacht!« Eine detaillierte Analyse der Quellen hat ergeben, dass zumindest die erste Kürzung in der Fuge (hier ausgestellt) vor dem Treffen mit Straube bereits erfolgt sein muss. Die beiden anderen könnten am 11. April gemeinsam erarbeitet worden sein.

Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b, Erstdruck, Verlag N. Simrock 1916 – Umschlag

Am 28. April, vierzehn Tage vor seinem Tod, gab Reger die zweite und finale Korrektur des Notentextes frei. Von Reger autorisiert ist somit ausschließlich die gekürzte Endfassung. Dennoch gilt sie bis heute nicht bei allen Organisten als definitiv – einerseits aus werkästhetischen Gründen, aber auch nicht zuletzt durch die Aufnahme der ursprünglichen Manuskriptfassung in die bei Breitkopf & Härtel erschienene Reger-Gesamtausgabe 1966, deren Einzelausgaben bis heute nicht die Problematik dieser Version hinreichend dokumentieren.

Nach einem arbeitsreichen Tag am Leipziger Konservatorium, einem Abendessen mit dem Verleger Henri Hinrichsen (C. F. Peters) und geselligem Beisammensein im Café Hannes am 10. Mai nahm Reger im Hotel Hentschel Quartier und starb in den Morgenstunden des 11. Mai in seinem Hotelzimmer.

Reger auf dem Totenbett am Morgen des 11. Mai 1916, Fotografie von Edith Mendelssohn Bartholdy, Reproduktion

Trauerfeier für Max Reger am 14. Mai 1916 in Jena, Fotografie aus dem Nachlass Elsa Regers – erworben 1999

Die Trauerhalle kann nur einen Teil der Trauerkränze anlässlich Regers Tod aufgenommen haben. Das Trauergebinde der Mezzosopranistin Anna Erler-Schnaudt, die bei der Trauerfeier sang, greift mit den Worten »Wenn ich einmal soll scheiden« jenen Choral auf, der Reger nach eigenen Worten sein ganzes Leben lang begleitet hat (siehe auch der langsame Satz der Orgelsuite e-Moll op. 16)

Markuskirche Stuttgart (erbaut 1907–1908), Fotografie von H. Dolmetsch in der Bauzeitung für Baden-Württemberg · Hessen · Elsass-Lothringen 1909, Reproduktion

Weder Hermann Dettmer (1867–1934), von Reger intendierter Uraufführungsinterpret der Komposition und Organist der Stadthalle Hannover, noch Karl Straube spielte posthum die Uraufführung von Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b, sondern am 7. Juni 1916, im Rahmen mehrerer Gedenkveranstaltungen, Regers und Straubes früherer Schüler Hermann Keller (1885–1967), damals frisch berufener Organist der Markuskirche Stuttgart, deren Walcker-Orgel seither mehrfache Umbauten erfahren hat.

Phantasie und Fuge d-Moll für Orgel op. 135b
Fuge
Gerhard Weinberger an der Furtwängler & Hammer-Orgel im Dom zu Verden an der Aller (2010) | Anhören

 

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