Richard Willstätter zum 150sten Geburtstag
Richard Willstätter 1923. - Quelle: Wikipedia
Michael Mönnich Karlsruhe (Gastautor). Freischaltung: 13.8.2022 8.30 Uhr
DOI: https://doi.org/10.58019/25mp-y476
Nachdem er 1938 vor den Verfolgungen des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland in die Schweiz geflohen war, schrieb der Chemienobelpreisträger und gebürtige Karlsruher Richard Willstätter in seinem Tessiner Exil seine Autobiographie. Sie erschien posthum und gibt interessante persönliche Einblicke in ein deutsches Forscherleben in sehr bewegten Zeiten während dreier politischer Systeme. Sie findet sich auch im Bestand der Badischen Landesbibliothek (1. Aufl. 1949 und 2. Aufl. 1958).
Wohnhaus der Familie Willstätter in der Zähringer Str. 86 in Karlsruhe. - Foto M. Mönnich
Der Arbeitskreis von Adolf von Baeyer 1893: Willstätter in der 2. Reihe rechts; in der 1. Reihe links Adolf von Baeyer. - Quelle: Wikipedia
Martin Richard Willstätter wurde am 13. August 1872 in Karlsruhe geboren. Seine jüdischen Vorfahren waren schon im Jahre 1717 aus der Offenburger Region in die junge Residenzstadt gekommen.
Sein Geburtshaus befand sich in der Langen Straße 173 (der heutigen Kaiserstraße). 1875 zog die Familie in die Zähringerstraße 86. Der Vater Max Willstätter betrieb eine Tuchhandlung am Marktplatz und hatte 1870 Sophie Ulmann, die Tochter eines Fürther Tuchhändlers, geheiratet. Richard verlebte eine glückliche Jugend in Karlsruhe. Weil das Textilgeschäft wenig ertragreich war, ging der Vater Max 1883 nach New York, um dort für den Unterhalt der Familie zu arbeiten. Seine Frau Sophie zog mit den Söhnen nach Nürnberg zu ihrer Familie. Der Umzug war laut seiner Autobiographie „die Vertreibung aus dem Paradies", denn die Stadt in Franken schien ihm „grau und eng“ und „durch Antisemitismus vergiftet“. Zudem litt er unter der Abwesenheit des Vaters, der erst im Jahr 1900 zurückkehrte.
1890 begann Willstätter das Studium der Chemie in München bei dem berühmten Chemiker Adolf von Baeyer, der 1875 den Lehrstuhl von Justus von Liebig übernommen hatte. Später reflektierte er über diese Zeit: „Mein Vorlesungsbesuch war sehr wenig erfolgreich. Wahrscheinlich fördern im allgemeinen die Vorlesungen den Hörer viel weniger als wir Dozenten uns einbilden. Oft sind die Vorlesungen zu inhaltsreich […] Selten sind die Vortragenden, die den Fehler der Eintönigkeit oder den größeren der Beredsamkeit vermeiden und die mit ruhiger Stimme und mit Abstufungen zwischen Haupt- und Nebensachen den Hörer beherrschen. Es ruht sich zu gut bei sanftem Murmeln oder bei rauschendem Strömen.“
1894 wurde er promoviert und habilitierte sich im November 1896: „Die Habilitation machte der schönsten Zeit ein Ende, in der es nur die Freude und Muße der experimentellen Arbeit gegeben hatte“, denn nun hatte er verstärkt Lehrverpflichtungen nachzugehen, wofür die Vorbereitungszeit fehlte: „Wir Chemiker können keine schönen Wissenschaftlichen Alltagsvorlesungen halten […] der Tag gehört dem Laboratorium, den Mitarbeitern, den Prüfungen, vielleicht auch noch langen Sitzungen.“ 1902 wurde Willstätter Extraordinarius, und begann mit Untersuchungen über Pflanzenfarbstoffe, namentlich das Chlorophyll. Obgleich ihm von Baeyer aus Karrieregründen die Konversion zum Christentum empfahl, blieb er seinem jüdischen Glaubensbekenntnis treu.
1903 heiratete er die vier Jahre jüngere Sophie Leser aus Heidelberg, die jedoch schon fünf Jahre später verstarb und den jungen Witwer mit den beiden Kindern Ludwig und Margarete zurückließ. Willstätter heiratete nie wieder. 1905 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für anorganische und organische Chemie an der ETH Zürich. Hier fanden seine Arbeiten zur Struktur des Chlorophylls ihren Höhepunkt und es beeindruckten ihn die gute Ausstattung und die offene Atmosphäre in der Schweiz:„Es gab hier noch keine nationalistischen Strömungen, die zur Abschließung und Inzucht verführt hätten […] Politische Flüchtlinge und der Festungshaft entsprungene […] nahm man nicht als Emigranten sondern als Immigranten auf“.
1911 verließ er München und ging als Gründungsdirektor der Abteilung für Organische Chemie an das im Entstehen begriffene Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin, das heutige Max-Planck-Institut. Ausschlaggebend für den Wechsel war die Aussicht, dort frei forschen zu können und „…ganz unabhängig zu sein. Niemand wird sich um Sie kümmern und Ihnen dreinreden. Sie können ein paar Jahre im Grunewald spazieren gehen und sich ausruhen oder wenn Sie wollen, etwas Schönes, Neues ausdenken“. Das neue Institut wurde 1912 von Kaiser Wilhelm II. persönlich eingeweiht und Willstätter forschte hier weiter über Blütenfarbstoffe. In dieser Zeit entstand auch die lebenslange Freundschaft mit dem ehemaligen Professor an der TH Karlsruhe, Fritz Haber, der seit 1911 Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische und Elektrochemie war. Sie schätzten sich trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere, wie sie Haber in einem Brief an Willstätter trefflich charakterisierte: „Du hast stets gewusst, was Konzentration und Planmäßigkeit bedeuten. Wenn ich zwischen Suppe und Braten plötzlich aufgesprungen bin, um mit ungenagelten Schuhen am hohen Nachmittag auf einen Schneeberg zu laufen und dann an der Schneegrenze umkehren musste, so bist du nach sorgfältiger Erwägung unauffällig früh um vier Uhr mit rechter Ausrüstung aufgebrochen und ohne Hast und Pause auf den Gipfel gestiegen“. Beide unternahmen gemeinsame Urlaubs- und Erholungsreisen im Schwarzwald, Italien, Schweiz, England, Spanien und Madeira. Als letzten Freundesdienst hielt Willstätter 1934 die Trauerrede bei Habers Beisetzung in Basel.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 stellten sich auch die Wissenschaftler an den Kaiser-Wilhelm-Instituten in den Dienst der Kriegswirtschaft. Während Haber mit seinen Kollegen die Entwicklung von Kampfgas vorantrieb, arbeitete Willstätter an Schutzmasken gegen Giftgas. Das Jahr 1915 brachte für Willstätter Höhen und Tiefen: Der Tod seines zehnjährigen Sohnes Ludwig wegen Diabetes traf ihn schwer. Wenig später erging an ihn der Ruf an die Universität München als Nachfolger von Adolf von Baeyer als Ordinarius für Organische Chemie. Im November erhielt er als Krönung seiner Laufbahn den Nobelpreis in Chemie zugesprochen, den er jedoch erst im Juni 1920 in Empfang nehmen konnte.
Willstätter war chemisch sehr breit interessiert. Er beschäftigte sich nicht nur mit organischer Chemie und Biochemie, sondern arbeitete auch an Projekten im Bereich der physikalischen, anorganischen und technischen Chemie. Für seine Arbeiten zu den Pflanzenpigmenten, insbesondere aber für seine Untersuchungen zum Chlorophyll, erhielt er den Nobelpreis für Chemie. Schlüssel zum Erfolg in seiner wissenschaftlichen Karriere war neben seinem Intellekt sein enormer Fleiß und seine überaus überlegte und sorgfältige Arbeitsweise.
Der Wechsel nach München im Frühjahr 1916 fand mitten im Ersten Weltkrieg statt. Die Versorgung war schwierig, die meisten Studenten waren an der Front und Willstätter selbst verspürte nur wenig Elan: „In den neuen Lebensabschnitt vermochte ich nicht Freudigkeit mitzubringen; ich hatte die Frische, den Frohsinn meiner Jugend verloren. Das Kriegsgeschehen, mein eigenes Erleben in den Jahren 1908 und 1915 wirkten so, daß ich meinen Weg eben ging, weil ich ihn gehen mußte“. In München bewirkte er eine Erweiterung des Instituts und hielt den Betrieb trotz Krieg und Inflation aufrecht.
Am 24. Juni 1924 jedoch reichte Willstätter seinen Rücktritt von der Professur ein. Anlass war die Ablehnung der Berufung des von ihm unterstützten Kristallographen Victor Goldschmidt, Professor in Oslo, durch die Fakultät: „[…] ich bin neuerdings mit der Haltung der Fakultätsmehrheit in Berufungsfragen so wenig einverstanden, dass ich der Fakultät nicht mehr länger angehören kann“ (Zitat aus Litten, 1999). Welche Beweggründe Willstätter letztlich zu diesem Schritt verleitet haben mochten, bleibt indes unklar. In seiner Autobiographie verweist er auf die antisemitische Gesinnung in München im Allgemeinen und in der Fakultät im Besonderen und darauf, dass der Physiknobelpreisträger Wilhelm Wien, der 1920 als Nachfolger von Wilhelm Röntgen nach München gekommen war, als Dekan der Fakultät die Berufung Goldschmidts wegen dessen jüdischer Herkunft hintertrieben hätte. Auch die Presse deutete den Rücktritt in diesem Sinne und schrieb über „Münchener Hochschulantisemitismus“. Vielleicht lag die Ursache seines Rückzuges auch in seinen persönlichen Umständen und darin, dass er mit seinen Forschungen in München nicht mehr an die bisherigen Erfolge anknüpfen konnte. Andererseits ist unstrittig, dass Willstätter – spätestens seit seiner Amtszeit als Dekan – aufgrund der politischen Entwicklungen stark beunruhigt war und die Berufungsaffäre vielleicht nur den letzten Anstoß gab.
Richard Willstätter, vor 1939. - Quelle: ETH Zürich
Nach seinem Ausscheiden aus der Universität im Herbst 1925 ließ Willstätter eine Villa in der Möhlstraße 29 errichten, wo er bis 1938 ein zurückgezogenes Leben führte. Er führte aber seine Forschungen, u.a. im Auftrag der Münchener Akademie der Wissenschaften und mit Mitteln der chemischen Industrie wie auch der Rockefeller Foundation weiter und verfasste noch 86 Publikationen. Auch erhielt er noch mehrere Rufe an Universitäten im In- und Ausland, zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden.
Nach der Machtergreifung Hitlers bemerkte er 1933 lakonisch: „[nun] fielen mir aber zahlreiche zeitraubende Verpflichtungen hinweg, z.B. die Hydra der Gutachten für die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft [die spätere DFG], die Sitzungen der Akademie mit meinen langweiligen Protokollen, die Wünsche des deutschen Museums und die Nachtpartien nach Berlin zu Sitzungen der Chemischen Gesellschaft und verschiedener Kuratorien“. Willstätter, der sich stets zu seinem Judentum bekannt hatte, blieb dennoch bis 1938 weitgehend unberührt von den politischen Veränderungen; möglicherweise auch deshalb, weil er als angesehener Wissenschaftler in seiner Villa in „innerer Emigration“ unauffällig lebte.
Portrait Richard Willstätters in seiner Autobiographie. - Quelle: Stadt Karlsruhe
Er zögerte lange, ins Exil zu gehen, denn er fühlte sich seinem Heimatland stark verbunden: „Ich weiß, dass Deutschland verrückt geworden ist, aber wenn eine Mutter krank wird, ist das für das Kind kein Grund sie zu verlassen. Meine Heimat ist Deutschland, und meine Universität ist München, trotz allem was geschah“ (Zitat aus Dippel, 1997). Seine Tochter Margarete emigrierte 1936 in die USA. Sie hatte in München Physik studiert, in Quantenmechanik promoviert und danach bei Fritz Haber in Berlin gearbeitet. 1933 ging sie in die USA und lebte mit ihrem Ehemann Ernst Bruch und vier Kindern in Winnebago, Illinois. Erst nach den Novemberpogromen 1938 raffte sich auch der Vater zur Flucht auf, nachdem er nur durch Zufall der Verhaftung durch die Gestapo entging. Nach einem gescheiterten Versuch, mit dem Ruderboot heimlich über den Bodensee in die Schweiz zu gelangen, erhielt er im März 1939 auf offiziellem Weg die Ausreisegenehmigung nach Basel. Dabei unterstützte ihn sein ehemaliger Schüler Arthur Stoll, der dort bei Sandoz tätig war.
In der Schweiz verbrachte Willstätter die letzten Lebensjahre in Muralto, einem Vorort von Locarno. Hier schrieb er an seiner Autobiographie, bis er am 3. August 1942 einem Herzleiden erlag. Auf dem Friedhof in Muralto erinnert ein großer Gedenkstein mit einer Allegorie der Chemie an den aus Karlsruhe stammenden Nobelpreisträger. In der Münchner Ruhmeshalle findet sich seine Büste. In Karlsruhe trägt die vom Schloss durch den Fasanengarten nach Osten führende Richard-Willstätter-Allee seinen Namen. Eine 1968 an seinem Geburtshaus in der Kaiserstraße 173 angebrachte Gedenkplakette ist leider inzwischen verschwunden.
Autor:
Michael Mönnich
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
KIT-Bibliothek, Straße am Forum 2, 76049 Karlsruhe
michael.moennich@kit.edu
Willstätter, Richard
Nobelpreisträger
Chemie
Karlsruhe
Ludwig-Maximilians-Universität München
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich. Departement Chemie
Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie
Pflanzenfarbstoff