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Hanspeter Klasser: Die Reisebeschränkungen in Zeiten der Corona-Pandemie oder wie ich meine alte Kartensammlung wieder entdeckte
Eigentlich sind große Reisen für mich kein Thema mehr. Nicht weil sie zu anstrengend wären, sondern weil ich das Glück habe, meine wichtigsten „Sehnsuchtsorte“ schon gesehen zu haben. Die Fjälls in Skandinavien, den Säntis in der Schweiz, Venedig, New York – eigentlich gibt es keinen Ort, wo ich unbedingt noch hinmüsste. Strenggenommen haben die Reisebeschränkungen in der Corona-Pandemie also keine wesentliche Bedeutung mehr für mich. Trotzdem lässt einen die Situation nicht unberührt. Venedig menschenleer? 20.000 Tote in New York…. Ich bekomme ein Foto von einem meiner Söhne, das die menschenleere Ankunftshalle des Flughafens in Hamburg zeigt. Alles scheint auf einmal stillzustehen.
Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich sehe, wie wenig mir die Reisebeschränkungen etwas ausmachen. Und es ist auch ein seltsames Gefühl, nicht mehr irgendwo hin zu müssen. Dass dies einmal anders war, belegen allerdings die vielen Straßenkarten, Messtischblätter und Reiseführer, die bei mir zu Hause zu finden sind. Fast in jedem Zimmer liegen irgendwo Karten: Im Bücherregal im Wohnzimmer findet man Stadtpläne und Wanderführer; in der Schublade des Nachtischschränkchens liegen Fjällkarten aus Schweden – teilweise ziemlich abgegriffen – die ich abends gelegentlich betrachte und mir dabei Touren ins Gedächtnis rufe, die ich einmal gelaufen bin. In meinem Arbeitszimmer ist eine ganze Schublade gefüllt mit Karten in den verschiedensten Maßstäben vor allem aus Frankreich und Skandinavien. Und sogar in der Küche hängt – woanders war kein Platz – eine große Karte an der Wand, in der die Zugreise von Stockholm nach Abisko in Nordschweden eingezeichnet ist, die meine Frau und ich vor 10 Jahren gemacht haben.
Jetzt kann man sich natürlich fragen, woher bei mir diese innige Beziehung (Beziehung? Ja, Beziehung!) zu Karten kommt. Angefangen hat es wohl mit einem Shell-Atlas, den meine Mutter vom Eigentümer einer Hausschuhfabrik, in der sie arbeitete, geschenkt bekam (oder den sie aus dem Papierkorb rettete, kann auch sein…). Dieser Shell-Atlas war etwas ganz Besonderes für mich. Ich muss damals – Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts – um die 12 Jahre alt gewesen sein. Kein Internet, in dem man mit ein paar Mausklicks Reiserouten detailgenau abrufen oder Stadtpläne mit allen Einzelheiten finden kann. Nur wohlhabende Menschen reisten ins Ausland: Italien, Adria, Rimini…. Bei mir Klassenausflüge ins nahegelegene Mittelgebirge, später erst ein Urlaub mit den Eltern am Chiemsee…
Für mich war dieser Atlas eine Art Tor zur Welt. Ich habe ihn wie einen Schatz gehütet und viel Zeit damit verbracht, Radtouren zu planen, die größtenteils erst später oder gar nicht verwirklicht wurden. Als ich ein paar Jahre älter war, habe ich Stadtpläne betrachtet und davon geträumt, in Hamburg am Hafen zu stehen oder die Zentren großer Städte zu erkunden. Losgelassen hat mich das Thema Landkarten nie mehr. Diesen Shell-Atlas gibt es natürlich längst nicht mehr, aber dafür eine umfangreiche Sammlung anderer Karten.
Es ist sicher kein Zufall, dass mir während der Corona-Pandemie meine Kartensammlung wieder verstärkt ins Bewusstsein gekommen ist. Die Spannung, die daraus entsteht, dass man irgendwo hinmöchte, es einem aber nicht möglich ist, ist schon seltsam. Und auch wenn ich mir manchmal spöttische Kommentare meiner Kinder über meine Kartensammlung anhören muss („Pa, da ist ja noch die DDR drauf!“), wegwerfen werde ich meine alten Karten sicher nicht. Es sind zu viele Erinnerungen damit verbunden.
↑Jennifer Hatz: Ich wäre doch eigentlich gar nicht hier gewesen…
Colorado, Oklahoma, Arkansas, Tennessee, Kentucky, Ohio, Pennsylvania, New York und New Jersey, ein klassischer Road-Trip durch die abwechslungsreiche Landschaft der US-Staaten. Zwei Freundinnen, ein Truck, Dosenbier und eine gemischte Musik-Playlist; der Traum von einem unvergesslichen Abenteuer im Spätsommer 2020.
Mühsam und zäh hat sich die Planung gestaltet. Chats und Sprachnachrichten, die eine ganze Hörbuchreihe gesprengt hätten, waren das Ergebnis und die Vorfreude war gigantisch.
Während ich mein ESC in Tbilisi, Georgien, absolvierte, studierte meine Freundin in der Fächerstadt. Wir wollten es uns nicht nehmen lassen, zu reisen, Neues zu erleben und unvergessliche Augenblicke zu erleben. Die USA. Ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten – was man sowohl im negativen, als auch im positiven bejahen darf.
Die Reise hätte Ende August, Anfang September stattfinden sollen. Die letzte Woche haben wir unseren Grobschliff der Reiseroute ausgefertigt und haben uns bereits Flugtickets angeschaut und gesagt, „Ja, wir buchen!“. Doch dann kam alles anders: Covid-19, Corona, Panik und Unsicherheit.
Aus der geplanten Reise im Spätsommer wurde für mich ein Katapultsprung in die Heimat. Acht Stunden. Telefonate mit der deutschen Botschaft in Georgien, der sendenden Organisation aus Deutschland und der entgegennehmenden Organisation in Tbilisi. Ein Wirrwarr an Gefühlen und ein Pochen im Kopf. Keine acht Stunden später war ich in München, Deutschland. Kaputt und ratlos. All die Pläne für einen Urlaub wurden binnen dieser acht Stunden in den Boden gestampft. Ungewissheit folgte und dauerte an, eigentlich bis heute.
Dass eine Reise dieses Jahr nicht mehr möglich ist, wurde uns beiden Freundinnen sehr schnell klar. Da spielt ja auch der logische Menschenverstand mit. Man möchte sich dem Risiko einer Corona-Erkrankung nicht aussetzen, man möchte Familie, Freunde und Bekannte damit nicht in Gefahr bringen. Ein Seufzen ist die Folge. Kein Truck, keine Fahrt durch die Landschaft der US-Staaten, keine Motels, Wanderungen, Essen für fünf Personen, keine Überdosis und Zuckerschocks dank der Donuts, nein. Überfüllte Baggerseen, Besuche bei der Eisdiele, die mit dem Verzehr einer Eis Kugel 50 Meter weit entfernt endeten, Kontaktformulare in Restaurants und Bars – so sieht der Sommer in Deutschland aus. Ein etwas anderer Urlaub.
Und ich denke mir, „Ich wäre eigentlich doch gar nicht hier gewesen…“
↑Helga Stahl: Karten erzählen Geschichten
Akwa Ibom, Nigeria ich komme…. NICHT.
Regenbogenpresse liegt auf dem niedrigen Tisch aus den Siebzigern. Ein kurzes Zögern, ich entscheide mich für die Bunte. Eigentlich schaue ich mir nur die Bilder an. Meine Gedanken sind bei meiner geplanten Reise in die Tropenwälder von Akwa Ibom in Nigeria. Westafrika. Fest entschlossen, allen Warnungen zum Trotz, mir selbst ein Bild von dem Land zu machen, sitze ich im Wartezimmer meines Arztes, der auch für Reiseimpfungen spezialisiert ist. Die letzten Bilder der Zeitschrift werde ich nicht mehr sehen. Ich bin dran. Hallo Doc. Ich brauche eine Gelbfieber-Impfung.
Ich werde über erforderliche Impfungen und Risiken aufgeklärt und verlasse die Praxis mit einem Rezept für die Gelbfieber-Impfung. „Am Montag kommen Sie zur Injektion.“
Den Impfstoff lege ich im Kühlschrank ins Gemüsefach. Der Flug ist für Mai reserviert. Zeit genug, um mich um ein Visum zu kümmern.
Plötzlich steht die Welt Kopf. Nicht meine Welt. Nein. Die ganze Welt. Global Lockdown. Was heißt das denn? Corona SARS Covid-19 heißt der Feind. Montags ein Anruf vom Arzt.
Die Impfung fällt aus. Ab sofort bin Ich Risikogruppe und systemrelevant.
Ich wohne in Frankreich. Bin Grenzgänger. Pendler. Ich darf das Land täglich verlassen, um arbeiten zu gehen. Die Pendlerbescheinigungen stapeln sich. Ständige Änderungen. Social Distancing. Gar nicht mein Ding.
Das interessiert keinen. Was geht denn da ab? Was ist los In der Welt? Was habe ich mit diesem unbekannten Virus zu tun? Flugzeuge bleiben auf dem Boden. Ich aber will weg. Die Landkarte ist mein Zuhause. Zum ersten Mal im Leben erfahre ich, was Freiheit heißt. Hingehen, wohin ich möchte. Die Corona-Pandemie lehrt mich etwas Anderes. Nigeria. Unerreichbar.
Der Impfstoff zum Glück haltbar bis 2021. Ich beginne, mich während des Hausarrests im World-Wide-Web auf den Weg zu machen. Beschäftige mich mit dem Land und der Kultur. Von zu Hause aus.
Ich lerne. Ich lerne das Land kennen und meine bisher gelebte Reisefreiheit zu schätzen. Mir wird bewusst, wie kostbar es ist, auf diesem Teil der Erde zu leben. Wie sehne ich mich nach sechs Monaten Einschränkung, Ungewissheit und Fremdbestimmung danach, mich auf den Weg zu machen. Der Impfstoff Im Kühlschrank ist zum Freiheitssymbol geworden.
Alle Nebenwirkungen in Kauf nehmend warte ich täglich auf die Nachricht „Internationale Flüge sind freigegeben“. Mein Fernweh zeigt mir, dass ich die Welt brauche. Jetzt warte ich darauf, dass die Welt auch mich wiederhaben möchte.
Akwa Ibom ist noch nicht aufgegeben.
↑Jasmin G. König: Reisen!
Urlaub und Reisen – Was ist das überhaupt und weshalb ist mir das so wichtig?
Wenn ich in einschlägigen Quellen recherchiere, erfahre ich, dass schon im Mittelalter die Ritter sich bei ihrem Lehensherrn die Erlaubnis eingeholt haben, weggehen zu dürfen, zu reisen und diese Erlaubnis Urlaub hieß. Eine Reise ist üblicherweise definiert als die Fortbewegung einer oder mehrerer Personen über einen längeren Zeitraum, um ein oder mehrere bestimmte Ziele zu erreichen.
Die Erlaubnis also, wegzugehen, meinen gewohnten, alltäglichen Ort zu verlassen – das ist Urlaub.
Ich habe dieses Jahr endlich Urlaub. Aus besonderen Gründen ist es ein lang ersehnter Urlaub, da der letzte genau zwei Jahre zurückliegt. Aus ebenfalls besonderen Gründen kann ich aber nicht reisen! Ich kann meinen Wohnort nur bedingt verlassen; es herrschen gesellschaftspolitische Bedingungen, die unkalkulierbar sind und uns so sehr einschränken, dass ich jetzt keinesfalls eine Reise ins Ausland antreten kann!
Ja genau, ins Ausland! Es sollte über Frankreich nach Spanien gehen. Ich wollte für einen Zeitraum von vier Wochen alles hinter mir lassen, alle Pflichten und Sorgen einschließen und auf große Fahrt gehen, durchatmen, Kraft tanken und mich erholen.
Im Geiste sehe ich die Farben der Provence, den Blick vom Gipfel des Mont Ventoux über die Weite der Landschaft nach Süden führend. Wie eine bunte Karte liegt sie bei guter Sicht vor mir und zeigt die Terracotta-Dächer der malerischen, südfranzösischen Dörfer, die mit reifen Trauben voll hängenden Weinberge und die blühenden Lavendelfelder bis hinüber ins Luberon. Ich weiß, dass nicht weit dahinter schon das Wasser liegt und in Gedanken daran erinnere ich mich an den Salzduft in der Luft, der das Meer auf der Fahrt zur Küste immer schon von Weitem ankündigt, an das Plätschern der Wellen und das Rauschen des Windes im Ohr, wenn ich endlich am Strand stehe und die Fußzehen in den feuchten Sand grabe Mein Blick geht nach Westen und über die gezackten Spitzen der Dentelles des Montmirail blicke ich in die Ebene der Rhone, bis die Farben am Horizont verschwimmen und mit dem Himmel eins sind.
Ich atme tief durch und entspanne mich, halte die Augen geschlossen, um diesen Moment nicht zu verlieren, um das Gefühl auszukosten.
Genau hier wollten wir starten, etwas verweilen und uns dann ganz gemütlich am Meer entlang nach Süden bewegen bis ans Ebro-Delta im südlichen Katalonien.
Jetzt bleibt das alles eine Gedankenreise. Muss ich nicht froh und dankbar sein, dass ich das alles schon einmal gesehen habe und, sobald ich die Augen schließe und einen Ruhepol um mich schaffe, einfach abrufen kann? Dass ich es mit der Erinnerung sogar beinahe fühlen und schmecken kann?
Dennoch stimmt es mich traurig. Ja, ich kann die Karten anschauen, die ich von all meinen bisherigen Reise-Zielen habe – in Papier wohlgemerkt, auch wenn wir über die neuesten digitalen Techniken verfügen. Ist es nicht irgendwie abenteuerlich, eine richtige Karte in Händen zu halten, die Himmelsrichtung zu bestimmen und den Weg zu suchen? Das erinnert mich immer an die alten Entdecker, die mit ihren gemalten, oft auch – wie wir heute wissen – ungenauen Karten unterwegs waren. Und ich bin immer stolz, wenn ich mich in einer mir völlig fremden Gegend nur mit einer einfachen Karte zurechtfinde.
Aber ich genieße auch die digitalen Karten, wo ich mich von der ganz großen Übersicht bis in kleinste Details zoomen kann. Und ich kann mir dazu Fotos einblenden lassen. Auch so ist eine Gedankenreise möglich. Abschalten und virtuell reisen. Ja das geht, wenn auch nur immer ganz kurz. Und auf diese Weise ist es ja leider auch immer nur ein klitzekleiner Gefühlsausschnitt!
Reisen ist doch so viel mehr!
Ich öffne ganz bewusst eine Tür ins andere Land, betrete fremden Boden, bin achtsam, nehme wahr, sehe, rieche, schmecke, höre. Und ich bin völlig frei und offen für jegliche neuen und ungewohnten Eindrücke; ich möchte mein Umfeld erforschen, kennen und verstehen lernen, Menschen freundlich oder sogar herzlich begegnen ohne Vorurteile, ohne eigene Vorgeschichte, wie ein Kind auf ein anderes zugeht, einfach um der Begegnung und kindlichen Neugierde willen. Und ich hoffe, ebenso freundlich aufgenommen zu werden, willkommen zu sein, dass man mein Lächeln erwidert und meine Wertschätzung, meinen Respekt annimmt.
Reisen, echtes physisches Reisen ist Ortswechsel und Begegnung, ein Tasten und Fühlen und Genießen. Das geht in Gedanken nicht wirklich. Gedanken – sie sind nur wie eine Reiseplanung, eine Vorfreude auf die echte Reise, eine Vorbereitung auf die tatsächliche Fortbewegung.
Jede Reise ist auch eine Reise zu Dir selbst, habe ich mal gehört. Ja, das stimmt. Wenn ich reise, kümmere ich mich auch mehr um mich, fühle und höre in mich hinein, lasse Eindrücke auf mich wirken, nehme mir Zeit, vergleiche und freue mich, wenn ich etwas verstehe oder erkenne, das sich mir nicht ohne Weiteres erschließt. Ich erforsche meine Umgebung und mich selbst. Und das gelingt mir leichter, wenn ich irgendwo fremd bin.
Deshalb ist mir Reisen immer so wichtig. Und es ist auch irgendwie eine Belohnung für die Anstrengungen des Alltags, für die vielen Mühen. Ich kann mich selbst belohnen, weil mein Umfeld das nicht immer tut, wenn es angebracht wäre oder die Wertschätzung manchmal völlig ausbleibt. Und da ist Urlaub und Reisen immer das passende Trostpflaster; allein der Glücksmoment des ersten Tages des Aufbruchs, wenn viele freie Tage in einer neuen Welt vor mir liegen, ist unersetzbar.
Ich bin heute traurig, weil mir das Reisen verwehrt wird und keine ehrliche Aussicht auf eine Reise in den kommenden Monaten oder Jahren (?) besteht.
Aber es bleibt uns dennoch Hoffnung, und darin sind sich – da bin ich mir sicher – unzählig viele Menschen überall auf der Welt einig.
Wir hoffen, dass wir bald wieder in fremde Länder reisen dürfen, um uns voller Wertschätzung für eine Reise überhaupt, aber auch für die gegenseitige Gastfreundschaft und mit dem Respekt vor der jeweils fremden Kultur zu begegnen.
Denn das ist Reise: Begegnung!
↑Friederike Stein: Seychellen
Seychellen, dachte Franziska, Seychellen hatte gut geklungen.
Eingabe, Bestätigung. Alles viel einfacher als gedacht.
Jetzt nähert sie sich ihrem Ziel. Das Blau, Schwarzblau, und wieder Blau ist der Ozean. Dann hellere Flecke, weißlich, kräftiges Grün, dazwischen Braun. Baumkronen werden sichtbar, Wellengischt, graubraune Felsen, ein Strand. Sie entdeckt den Flughafen, die Landebahn wirkt so kurz! Und so sandfarben. Ist das nur festgefahrener Lehm?
Natürlich nicht, sieht Franziska später, Beton und Asphalt wie überall, vielleicht etwas holpriger als auf den Flughäfen, die sie von früher her kennt. Und tatsächlich recht kurz. Können richtig große Flieger hier überhaupt landen? Gelistet sind Condor, Qatar, Emirate Air, auch Air France und Lufthansa, doch, durchaus. Dazu eine Air Seychelles. Die Routen führen über Paris, über Doha oder über Dubai. Könnte man nicht auch auf Seehöhe ankommen, Aug in Auge mit dem Ziel? Nein, so, wie Franziska reist, kommt man immer von oben.
Die Anzeigetafeln auf dem Flughafen sind international. Der Rest, den sie so sieht, erinnert an eine Markthalle, offen nach allen Seiten für Blicke hinaus und Flanierende hinein, nur Verkaufsstände fehlen. Draußen stehen Palmen an einer Straße, fast weiß im gleißenden Sonnenlicht. Wahrscheinlich ist es staubig dort draußen, und ungeheuer heiß. Sacht winken ihr die struppigen Wedel zu. Wohl nicht gar so heiß, berichtigt sie ihren Eindruck, eine leichte Brise vom Meer macht die Hitze erträglicher, angenehm.
Franziska legte sich ihre Jacke um den Rücken. Die Tür stand offen, und es zog kalt herein.
Franziska kennt die Prozedur an Flughäfen, früher ist sie viel gereist, einige Male auch geflogen. Pass, Visum, was halt gebraucht wird. Durchleuchtung des Handgepäcks, Personenscanner. Oder wird hier nur „gepiepst“? Einmal hat sie sich bis aufs Unterhemd ausziehen müssen, bevor die Zollbeamtin merkte, dass eine Haarspange der Grund für die beunruhigenden Scanmeldungen war. Ein kleines Abenteuer mit glimpflichem Ausgang, so soll es sein. Wo genau ist sie jetzt eigentlich? International Airport Mahé, liest sie.
Mahé ist kein Ort, sondern eine Insel, die größte der Seychellen, sagt die Information, und die, deren Buckel am höchsten aus dem Ozean ragt. Die anderen im Schwarm heißen Cousin und Cousine oder Die Schwestern, dazwischen liegt fest verankert Frégate, erhebt sich Silhouette aus dem Meer. Ein Eiland, grisselig brokkoligrün mit altrosa Felssaum, bleibt ohne Namen, so sehr Franziska auch danach forscht. Robinson könnte hier leben, ohne Wunsch, je gefunden zu werden, eins mit sich und der Natur. Nur auf einer Insel wie dieser geht so etwas noch – sofern man täglich Kokosnüsse mag und Fisch. Oder Chauve-Souris, liest Franziska, Flughunde, auch als Curry mit Reis.
Wie Flughund wohl schmeckt? Sie denkt an die Tiere im Zoo, mit schwarzen Knopfaugen im flauschigen Gesicht. Dann schon lieber Soupe Tek-tek und Carri Poul, mit Huhn! Oder Hummer, Königsmakrele gegrillt und Millionärssalat mit Palmenherzen. Dazu frittierte Brotfrucht und Pommes d'Amour ... Wahre Paradeiser müssen das sein, von der wässrigen Supermarktware zu Hause so verschieden wie ihr romantischer Name hier von jenem banal klingenden Wort: Tomate.
Noch einen Kaffee? – Franziska nickte. Fast hätte sie 'Merci' gesagt. Oder wie hieß das auf den Seychellen?
Französisch und Englisch sind die Amtssprachen, stellt sie fest und ist erleichtert, als wäre sie ohne Koffer, ohne Geld in der Fremde gestrandet und müsste sich durchfragen zum Konsulat. Fast überall auf der Welt spricht man Französisch oder Englisch, häufig auch Deutsch, aber wenn etwas passiert, dann gilt das nicht mehr, dann gilt nur noch, was die Leute auf dem Markt reden, wenn sie unter sich sind: Timbuktuanisch oder Malaiisch oder Bambara oder ... Seselwa, findet Franziska als dritte Hauptsprache des Archipels. Eine Kunstsprache eigentlich, aus Englisch und Französisch und dem, was Forscher, Entdecker, Piraten, Händler, Verschleppte, Verkaufte oder sonstwie Dahergeratene an Idiomen zusammengeschwemmt haben. Kann man das wirklich noch künstlich nennen, so ein Potpourri, so einen Eintopf, der ein Dutzend Generationen lang vor sich hin geköchelt hat? Das erste Beispiel, das Franziska davon zu hören bekommt, klingt wie Afrikanisch, das ein Franzose spricht, oder umgekehrt, und sie versteht kein Wort.
Jemand drängelte sich an ihr vorbei, streifte ihr die Jacke von den Schultern. „Halten Sie doch Abstand!“, fauchte Franziska.
Wie kommt man auf den Seychellen von A nach B? An Franziskas Beobachtungspunkt fahren erstaunlich viele Autos vorbei, Pick-ups, Kombis, durchaus keine Klapperkisten. Busse gibt es auch, auf den größeren Inseln, nur offenbar keine Haltestellen. Man gibt dem Fahrer Zeichen, wenn man aus- oder einsteigen will. Ansonsten ist man zu Fuß unterwegs oder, tatsächlich, mit dem Rad. Von Insel zu Insel kommt man mit Propellerflugzeugen, Hubschraubern und natürlich per Boot. Ob sie jemanden findet, der sie zu ihrem Robinson-Eiland bringt? In Gedanken gleitet sie schon über das grünblaue Wasser, Inbegriff von Urlaub in jedem Reisebürokatalog. Unter ihr huschen silbrige Fische, ein grauer Hai schlängelt sich hastig davon, bedächtig rudert eine Meeresschildkröte vorbei.
Deutlich erkennt Franziska Klüfte und Risse im granitrosa Inselgestein, Wellenschaum säumt die Klippen, weiter oben überziehen Sträucher und Gras das Geröll. Aber noch näher kommt sie nicht heran. Seltsam eigentlich, dass es die meisten Urlauber an die Strände zieht, diese weißen Wüstenstreifen zwischen türkisfarbenem Wasser und Palmenspalier. Sand, Wasser, Palmen, Sand, Wasser, Palmen, Sand als Unterlage fürs Badetuch, Wasser zum Abkühlen und Planschen, wenn es nur zahm genug ist, nicht aufgepeitscht vom Monsun, dann steigt man in den Swimming Pool vor dem Hotel. Die Palmen: die Palmen sind hoch, manchmal krumm, und wachsen direkt aus dem Boden, nicht aus Bottichen mit dekorativ bepflanztem Substrat. Sie sind ein Beweis, dass man sich in Weit-Weg befindet, nicht bloß im Erlebnisbad der nächsten Stadt.
Manchmal hebt ein Tourist sein Kameraauge zum Horizont, wo fernere Inseln treiben, Wolken sich aus dem Wasser erheben und Schiffe versinken, ohne unterzugehen. Zweieinhalbtausend Jahre vor Magellan folgerten Phönizier und Griechen aus solchen Beobachtungen schon die Kugelgestalt der Erde. Ein anderer Reisender hat das unebenmäßige Ebenmaß eines Palmblattwedels entdeckt, ein weiterer Blütenpompons, die ohne Cheerleader, ganz für sich, in der Meerbrise tanzen. Ein Foto zeigt eine gerade gestrandete Kokosnuss auf spiegelndem Spülsaum, ein grünes Urmel-Ei, das noch nicht weiß, ob es bleiben darf oder von der nächsten Welle wieder mitgenommen wird.
Jemand schloss die Tür, endlich. Gleich wurde es wärmer.
Franziska findet Felsen interessanter als Strand, auch wenn sie hier aussehen wie Pappmachékulissen mit Sandpapierüberzug. Jemand hat Wellen und Riefen in sie hineinmodelliert, damit sie natürlicher wirken. Das hat zwar nicht viel gebracht, aber wenigstens gleicht kein Steinblock dem anderen. Jeder Felsküstenstreifen hat sein eigenes Gesicht. Außerdem, weiß Franziska, bergen Gesteinsrisse und -fugen oft Schätze, Muschelschalen zum Beispiel, von denen die weißen Strände leer sind, einen Gecko oder eine Blume, die sonst nirgends blüht. In einem Spalt zwischen zwei Felsen entdeckt sie einen Schädel, von Salz und Sonne gebleicht, wahrscheinlich nur ein Fischrest, ihr kommt er jedoch vor wie der Kopf eines Urzeitreptils.
Die Seychellenfelsen, bemerkt Franziska, sind rau, ausrutschen sollte man besser nicht, sonst schmirgeln sie einem die Haut ab. Doch nackte Füße finden auf ihnen guten Halt, und sie sind warm von der Sonne. Warm ist auch der Geruch von Salz und Meer, sanfter als an kälteren Küsten.
Franziska hängte ihre Jacke über die Stuhllehne. Zum Glück musste man am Platz keine Maske tragen.
Ein Hauch von Blüten mischt sich zum Geruch von Seewasser und warmem Fels. Blüten, die nur botanische Namen tragen und deren Bild zu Hause Parfumflakons schmückt. Im Urwald von Praslin hat achtzehnhundertundnochwas Gordon, ein englischer General, gemeint, leibhaftig im Garten Eden gelandet zu sein, mitsamt dessen verbotenen Bäumen. Für den Baum der Erkenntnis hielt er die Coco de Mer, Franziska muss lachen: Und Adam und Eva wurden gewahr, dass sie nackt waren ... Kein Wunder bei einer Palme, deren männliche Blütenstände an Riesenpenisse erinnern, während die auch nicht eben kleine Frucht der Weibchen einem wohlgerundeten Frauenhintern gleicht.
Ob Gordon von seinem Baum der Erkenntnis gegessen hat? Und noch interessanter: Was war für ihn dann der Baum des ewigen Lebens? Der Brotfruchtbaum, schnappt Franziska auf und ist enttäuscht. Brotfrucht isst hier jeder, aber lebt hier auch jeder ewiglich? Wohl kaum. Franziska hat schon Friedhöfe entdeckt, durch Zufall. Man macht kein Aufhebens darum, fast scheint es, als ob man sie verborgen hält. Wer will im Touristenparadies auch schon an den Tod erinnert werden, noch dazu in solchen Zeiten? Auch Gordon hat nicht ewig gelebt, und nichts erinnert hier mehr an ihn und seine Idee, außer vielleicht das Edens Holiday Hotel.
Franziska bekam Hunger. Kann ich noch ein Stück Kuchen bekommen?, fragte sie den Kellner des Cafés. Tut mir leid, war die Antwort, wir machen bald zu. Franziska seufzte und schloss auf ihrem Smartphone die Webseiten mit Fotos, Infos, Podcasts, die Webcam, zuletzt Maps. Drei Jahre lang hatte sie auf diese Reise gespart, die Seychellen waren nicht billig. Und jetzt war der Flug gecancellet, nichts ging mehr, nirgendwohin. Sie kramte ihren Mundschutz aus der Tasche.
Die Sonne war hinter den Häusern versunken, der Abendhimmel verfärbte sich rosa. Altrosa wie der Felssaum des namenlosen Eilands im Indischen Ozean.
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